zerstörter russischer Panzer nahe Makoshyne am Fluss Desna
Reportage

Tschernihiw in der Nordukraine Wo ein russischer Angriff scheiterte

Stand: 20.02.2023 10:47 Uhr

Als Russland die Ukraine überfiel, wurde die Region Tschernihiw als eine der ersten angegriffen. Dort lief der Vorstoß allerdings nicht nach Plan - unter anderem wegen einer Brücke, die es nicht gab.

Von Peter Sawicki, Deutschlandfunk, zzt. in Kiew

Irina Tymoschenkos zwei Hunde stehen am Holzzaun in Habachtstellung und bellen nervös. Unbekannten scheinen die Tiere zu misstrauen. Vielleicht liegt das an Tymoschenkos Erfahrung mit ungebetenen Gästen. Die Frau Mitte 50 schreitet über den schneebedeckten Rasen. Sie öffnet die Tür ihres Schuppens und zeigt auf eine Falltür im Boden:

In diesem Keller haben wir uns versteckt. Da unten haben wir Decken, Schlafsäcke, Wasserflaschen. Das alles liegt dort bis jetzt.
Irina Tymoshenko, Einwohnerin von Makoshyne/Tschernihiw

Irina Tymoshenko erzählt von den Stunden des Bangens, als die russischen Panzer einrollten.

"Bleiben Sie zu Hause, provozieren Sie uns nicht"

Tymoschenko wohnt in Makoschyne, einem Dorf in der nordukrainischen Region Tschernihiw. Die Gegend war eine der ersten, in die am 24. Februar 2022 russische Panzer einrollten. Seufzend erzählt die zweifache Mutter, wie sie den Beginn der Invasion erlebte:

Eine meiner Töchter rief mich von Kiew aus um 5 Uhr morgens an und sagte: 'Sie bombardieren uns.' Ich habe geweint. Ich hatte bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es dazu kommt. Meine Tochter kam dann auf schnellstem Weg zu mir. Kurz darauf waren russische Panzer hier. Es war furchtbar.

Sie habe sich, so Tymoschenko, mit ihren beiden Töchtern überwiegend im Keller versteckt. Es seien Stunden des Bangens gewesen, erzählt sie:

Der erste Satz der Soldaten war: 'Es gibt keinen Schießbefehl. Bleiben Sie zu Hause, provozieren Sie uns nicht.' Meine Töchter und ich sind drei- bis viermal am Tag aus dem Keller gestiegen, wenn uns zu kalt wurde. Ich hatte große Angst, dass die Soldaten in unser Haus kommen.

Dazu kam es nicht, nach drei Tagen zogen die russischen Truppen aus Makoschyne ab.

Panzer rollten auch durch Mena

Die Flure im Rathaus von Mena sind spärlich beleuchtet. Auch die Kleinstadt nördlich von Makoschyne leidet an Energieengpässen infolge russischer Luftangriffe. Im Büro von Bürgermeister Gennadi Primakow fällt dies nicht allzu sehr ins Gewicht. Durch die breiten Fenster dringt viel Tageslicht hinein. Primakow trägt eine Fleecejacke in olivgrüner Militärfarbe. Anders als viele Ukrainer hatte ihn die Invasion nicht überrascht:

Am 23. Februar war ich in Kontakt mit einem Bataillon unserer Armee, das hier stationiert war. Der Kommandeur rief mich abends zu sich. Er zeigte mir eine Aufnahme, auf der russisches Kriegsgerät zu sehen war. Er sagte: 'Morgen geht es los, das ist sicher.

So kam es auch. Mena ist weniger als hundert Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Nach wenigen Stunden rollten die ersten Panzer durch den Ort. Mena stand de facto unter russischer Besatzung. Primakow versteckte sich und brachte - emotional aufgewühlt - seine Familie in Sicherheit:

Ich verspürte Angst und Hass, aber auch Machtlosigkeit. Denn wir konnten zunächst nichts ausrichten. Ich sorgte mich außerdem um meine Frau und mein Kind. Ich hatte gehört, dass die Russen schon erste Bürgermeister gefangen genommen hatten. Man sagte mir: 'Evakuiere Deine Familie, sofort!

Falsche Erwartungen der Russen

Wie sich herausstellte, wollten die russischen Einheiten zügig weiterziehen und den Fluss Desna südlich von Mena überqueren. Dort schlug die ukrainische Armee dann die Invasoren zurück. Auch weil diese mit falschen Erwartungen angerückt waren, wie der Bürgermeister erzählt:

Im Zuge des Kampfes fanden wir eine Karte, die die Soldaten bei sich hatten. Jede Siedlung, jeder Fluss, jede Brücke war dort mit Tiernamen kenntlich gemacht. Markiert waren aber auch Brücken, die gar nicht existierten. Eine davon wurde 1986 noch zu Sowjetzeiten geplant. Sie wurde aber nie gebaut.
Valerii Kravzov, Stadtbediensteter von Mena/Tschernihiw

Waleri Krawzow schildert, dass die russischen Truppen improvisieren mussten - weil sie eine Brücke nicht vorfanden.

Russische Truppen mussten improvisieren

Walerij Krawzow geht über ein verschneites Feld am Rand des Dorfes Makoschyne und bleibt vor dem zugefrorenen Fluss Desna stehen. Am anderen Ufer liegt, gut sichtbar und von kahlen Bäumen umgeben, ein Panzer. Krawzow schildert dessen Geschichte: Er sei beim Versuch, den Fluss zu überqueren, zerstört worden. "Jetzt ist das nur noch ein Haufen Schrott. Man könnte ihn ins Museum stellen, um zu zeigen, was uns die 'russische Welt' gebracht hat."

Krawzow arbeitet im Bürgermeisteramt von Mena in der Nähe von Makoschyne. Den Beginn der Invasion hat auch er aus nächster Nähe erlebt. Weil die russischen Truppen nicht - wie erhofft - in der Gegend eine Brücke vorfanden, hätten sie improvisieren müssen, sagt er:

An dieser Stelle wurde eine Pontonbrücke errichtet. Die Aufgabe der russischen Einheiten hier war wohl, zunächst Tschernihiw schnell zu umzingeln. Kiew ist zudem nur 150 Kilometer entfernt. Sie hätten also dorthin vorrücken und es ebenfalls belagern können.
Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Schlüsselereignis für die Ukrainer

Der Bau der Pontonbrücke habe jedoch Zeit gekostet. Zudem hätten Anwohner, die sich im Wald versteckt hatten, die Position der russischen Truppen weitergegeben. Am Tag nach der Invasion gerieten diese dann unter Beschuss, erzählt Krawzow. Etwa 48 Stunden hätten die Kämpfe gedauert - mit erfolgreichem Ausgang für die Ukraine.

Für Krawzow ist dies ein Schlüsselereignis: "Unsere Luftwaffe und 'Bayraktar'-Drohnen traten in Aktion. Sie zerstörten die Pontonbrücke und zahlreiche russische Panzer. Ein Teil der Truppen floh nach Russland." Diese Ereignisse seien von zentraler Bedeutung gewesen. Sie hätten eine schnelle Einnahme Tschernihiws und wohl auch Kiews verhindert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Februar 2023 um 07:46 Uhr.