Gespräch über EU-Bewerbung Von der Leyen trifft Selenskyj in Kiew
Russlands Angriffskrieg hat zu einer Annäherung der Ukraine an die EU geführt. Doch reicht es für einen Status als Beitrittskandidat? EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen will in Kiew mit Präsident Selenskyj letzte Fragen klären.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zu Gesprächen über den EU-Beitrittsantrag der Ukraine in Kiew eingetroffen. Bei dem unangekündigten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt wolle sie sich mit Präsident Wolodymyr Selenskyj und Ministerpräsident Denys Schmyhal treffen. Mit ihnen wolle sie unter anderem noch offene Punkte des Aufnahmegesuchs erörtern, erklärte von der Leyen. Zudem solle es um die langfristige Hilfe der EU bei der Beseitigung der Kriegsschäden gehen.
"Wir werden eine Bestandsaufnahme der für den Wiederaufbau benötigten gemeinsamen Anstrengungen und der Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg vornehmen", sagte sie weiter. "Dies wird in unsere Bewertung einfließen, die wir demnächst vorlegen werden."
Baldige Einschätzung erwartet
Die EU-Kommission wird voraussichtlich kommenden Freitag ihre Einschätzung dazu veröffentlichen, ob der Ukraine der Status als Kandidat für einen EU-Beitritt gewährt werden sollte. Geknüpft an eine solche Empfehlung wären wohl Reformzusagen in Bereichen wie der Rechtsstaatlichkeit oder dem Kampf gegen Korruption. Die Entscheidung darüber, ob die Ukraine den Kandidatenstatus bekommt, liegt bei den EU-Staaten und muss einstimmig getroffen werden. Der EU-Gipfel am 23. und 24. Juni soll sich damit befassen.
Die Ansichten der Länder gehen jedoch teils weit auseinander, obwohl die Entscheidung über den Kandidatenstatus die Entscheidung über eine Aufnahme nicht vorwegnimmt und auch nicht mit einem Zeitrahmen verbunden ist. Die EU-Staaten hatten die EU-Kommission beauftragt, sich damit zu befassen und eine Empfehlung abzugeben.
Ukraine hat große Erwartungen
Die Ukraine hatte im März, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar, einen Antrag auf Annahme in die EU gestellt. Die Erwartungen der Ukraine an eine Annäherung an die EU sind sehr groß. Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk machte kürzlich im Europaparlament deutlich, dass es dabei auch um die Moral des ukrainischen Volks gehe: "Wir brauchen diesen Ansporn, wir brauchen diesen Beitrittskandidatenstatus. Das muss das ukrainische Volk aus Europa hören", sagte er.
Präsident Selenskyj macht immer wieder Druck und sagte jüngst, die EU könne einen historischen Schritt unternehmen und beweisen, dass Worte über die Zugehörigkeit des ukrainischen Volkes zur europäischen Familie nicht bloß leere Worte seien.
Interessen aller Länder berücksichtigen
Für die EU-Kommission ist es eine Herausforderung, bei ihrer Empfehlung die Interessen aller Länder zu berücksichtigen. Staaten wie Estland, Litauen und Lettland, aber auch Italien oder Irland machen sich nachdrücklich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen. Das sei "eine wichtige politische Botschaft, die wir so schnell wie möglich senden müssen", sagte der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda nach Gesprächen mit Bundeskanzler Olaf Scholz. "Wir haben kein moralisches Recht, diesen Augenblick zu verpassen. Die Ukraine verteidigt dieses Recht mit ihrem Blut."
Offene Ablehnung gegen einen solchen Weg gab es zuletzt wenig, doch sind einige Staaten mindestens skeptisch. Dazu gehören etwa Frankreich und die Niederlande. Scholz hat bislang nicht klar Stellung bezogen, jedoch betont, dass er keine Sonderregeln für einen beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine akzeptieren werde. Dabei verwies er auch darauf, dass dies nicht fair gegenüber den sechs Länder des westlichen Balkans sei, die ebenfalls auf einen Beitritt hoffen.
Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien sind bereits EU-Beitrittskandidaten. Das Kosovo und Bosnien-Herzegowina warten noch auf diesen Status. Die Annäherung stockt seit Jahren, Scholz will für eine neue Dynamik sorgen.
"Die Ukraine gehört zu europäischen Familie"
Von der Leyens Reise nach Kiew ist bereits ihre zweite seit Kriegsbeginn. Sie wurde aus Sicherheitsgründen im Vorfeld nicht öffentlich angekündigt. Im April hatte von der Leyen unter anderem den Kiewer Vorort Butscha besucht, in dem kurz zuvor Kriegsverbrechen öffentlich geworden waren. Selenskyj überreichte sie damals den Fragenkatalog, der für die Bewertung ihrer Behörde der ukrainischen EU-Ambitionen maßgeblich ist. "Wir stehen an eurer Seite, wenn ihr von Europa träumt", sagte sie damals. Ihre Botschaft laute, "dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört".