Lage der Ukraine Westliche Waffen gegen Ziele in Russland?
Verbündete der Ukraine warnten lange davor, aus dem Westen gelieferte Waffensysteme gegen Ziele in Russland einzusetzen. Angesichts der schwierigen Lage an der Front mehren sich Stimmen, die ein Umdenken andeuten.
Am Wochenende war Osterfest in der Ukraine - doch von Feiertagsruhe war an der Front nichts zu spüren. Die russische Armee griff die Ukraine erneut mit Drohnen, Gleitbomben und Raketen an.
Im Osten des Landes gelingen der russischen Armee mit heftigen Frontalangriffen weiter Geländegewinne, während die ukrainischen Soldaten auf die angekündigten Waffenlieferungen warten müssen. Die Lage ist so angespannt, dass eine Frage wieder lauter gestellt wird: Darf die Ukraine mit westlichen Waffen auch Ziele in Russland treffen? Einige NATO-Mitglieder zeigen sich hier zunehmend pragmatisch.
Gegenschläge "von internationalem Recht gedeckt"
Zuletzt war es David Cameron: Der britische Außenminister war am Donnerstag zu Besuch in Kiew. Gerade hat seine Regierung der Ukraine versprochen, das Land jedes Jahr mit einer Hilfe von drei Milliarden Pfund zu unterstützen - so lange wie nötig.
"Um es ganz klar zu sagen: Russland hat die Ukraine angegriffen, und die Ukraine hat absolut das Recht, zurückzuschlagen", sagte Cameron. "So wie Russland Ziele in der Ukraine angreift, kann man gut verstehen, warum die Ukraine die Notwendigkeit sieht, sich zu verteidigen - also: die Russen aus dem Land zu bekommen und die Fähigkeit zum Gegenschlag zu haben."
Cameron will es den Ukrainern überlassen, wie sie die britischen Waffen einsetzen. Kurz davor hatte auch die lettische Außenministerin Baiba Braže den Ukrainern einen Freibrief erteilt. In einem Interview mit der ukrainischen Onlinezeitung "European Pravda" sagte sie: "Die Ukraine braucht nicht nur Luftverteidigung oder Munition. Die Ukraine muss in der Lage sein, weit entfernte, präzise Schläge durchzuführen. Auch auf russischem Staatsgebiet, von dem aus Russland die Ukraine angreift. Das ist vom internationalen Recht gedeckt. Die Ukraine braucht Langstreckenwaffen."
Angriffe seit langem Realität
Solch deutliche Worte haben regierende westliche Politikerinnen und Politiker zu dem Thema bisher selten gefunden - zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Die russische Regierung hat dagegen immer wieder verbreitet, dass Angriffe mit westlichen Waffen auf russischem Staatsgebiet die Lage eskalieren könnten. So warf der Kreml dann jetzt auch David Cameron vor, dass seine Worte die europäische Sicherheit in Gefahr brächten.
Angriffe der Ukraine in Russland sind freilich seit langem Realität. Das Land beschießt Flugplätze, Militärlager oder Ölraffinerien mit Kampfdrohnen. Gerade Raffinerien wurden zuletzt häufig getroffen. Militärexperten glauben: Wenn die Ukraine ihre Drohnenangriffe so fortsetzt, könnte Russland schon im Sommer unter einer Benzinknappheit leiden. Die Spritpreise könnten damit auch weltweit steigen.
Angriffe auf Raffinerien besorgen die USA
Wohl auch deshalb hatte die US-Regierung zuletzt Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ausgeübt, keine Raffinerien mehr in Russland anzugreifen. Möglicherweise schlicht deshalb, weil hohe Benzinpreise Gift für einen Präsidenten im Wahlkampf sind. Selenskyj sieht aber keine Alternative, um Russland zu schwächen. Erst am Mittwoch ging wieder eine russische Ölraffinerie in Flammen auf.
Rückendeckung bekommt Selenskyj mittlerweile sogar vom NATO-Generalsekretär: Ölraffinerien auf russischem Staatsgebiet seien "legitime Ziele" für ukrainische Drohnenangriffe, sagte Jens Stoltenberg Anfang April.
Reaktion auf Lage an der Front
Schon lange geben westliche Politiker und Militärs Angriffen auf russischem Boden insgeheim ihren Segen. Mittlerweile tun immer mehr das aber auch öffentlich. Und einige sehen auch kein Problem mehr darin, wenn westliche Waffen dabei zum Einsatz kommen.
Für den ukrainischen Militärexperten Oleh Schdanov hat das auch mit der schwierigen Lage an der Front zu tun. Es bestehe die Gefahr einer erneuten Invasion des russischen Militärs in der Gegend von Sumy oder Charkiw, so Schdanov. "Wir werden auf jeden Fall gezwungen sein, Kämpfe an unserer Staatsgrenze zu führen." Das bedeute, dass der Feind auch auf russischem Territorium unter Beschuss genommen werde.
Stille Übereinkunft zum Einsatzradius
"Früher oder später musste es passieren, dass die westlichen Länder ihre Bitte fallen lassen, ihre Waffen nicht auf russischem Boden einzusetzen", so der Militärexperte. Es war sowieso immer eine "Bitte", sagt er. Ein Verbot habe es ohnehin nicht gegeben. Das gilt auch für die amerikanischen weitreichenden Raketen vom Typ ATACMS, die die USA der Ukraine im Frühjahr geliefert haben. Sie haben bis zu 300 Kilometer Reichweite.
Die Ukraine hat mit ihnen schon mehrere russische Ziele angegriffen, allerdings offenbar nur in den von Russland besetzten Gebieten. Damit hätte sie sich an die amerikanische Vorgabe gehalten: Die USA hatten die Lieferung der Raketen an die Bedingung geknüpft, dass sie nur innerhalb des ukrainischen Territoriums eingesetzt werden. Auch bei den britischen "Storm Shadow"-Marschflugkörpern soll es bisher diese stille Übereinkunft geben: Nur auf ukrainischem Staatsgebiet. Eine Vertrauenssache.
Scholz will sich nicht auf das Wort Kiews verlassen müssen
Bundeskanzler Olaf Scholz will sich auf dieses Vertrauen lieber nicht verlassen - gerade auch beim "Taurus"-Marschflugkörper. Er hat eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Bei einer Veranstaltung in Lüneburg sagte Scholz vor kurzem: "Da kann man auch nicht so eine Debatte führen, wie man sie unter Freunden führen kann: 'Traust Du mir nicht?' Natürlich trau ich meinen Freunden. Trotzdem würde ich nicht jedem alle Waffen geben!"
"Kicherkanzler" nennen ihn die einen seitdem spöttisch in den Sozialen Netzwerken, nachdem CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ihn so genannt hatte. Für die anderen ist Scholz der Unbeugsame, der trotz öffentlichem Druck nicht einknickt. Der ukrainische Militärexperte Schdanov hält es trotzdem für möglich, dass Scholz seine Meinung ändert.
"Nachdem die Amerikaner 'Abrams'-Panzer versprochen haben, hat Olaf Scholz zugesagt, uns 'Leopard'-Panzer zu liefern - obwohl er vorher gesagt hatte, dass solche Panzer niemals in der ukrainischen Armee eingesetzt werden würden", so Schdanov. "Also denke ich, dass es möglich ist, dass die Umstände sich so entwickeln, dass Olaf Scholz seine Meinung ändern und die 'Taurus' liefern wird."
Die Umstände entwickeln sich tatsächlich - und nicht zum Positiven: Russland ist weiter auf dem Vormarsch. Da werden Politiker schon mal pragmatisch.