Verteidigungskurse in Kiew "Ich werde mein Land schützen"
Ob Russland einen Angriff auf die Ukraine plant - darüber gehen auch in Kiew die Meinungen auseinander. Manche zweifeln, andere bereiten sich auf den Ernstfall vor - in Verteidigungskursen.
Rund 60 Männer und Frauen machen im nüchternen Raum eines Industriegebäudes in Kiew eine Schulung bei der ukrainischen Armee. "Ruhm der Ukraine", ruft der Referent. "Ruhm den Helden", schallt es zurück. Die Freiwilligen tragen fast alle Uniform und haben sich für die sogenannte Territoriale Verteidigung von Kiew gemeldet - eine von mehr als 20 Regionen im Land.
In einem Ernstfall wäre auch die Ärztin und dreifache Mutter Marta Juskiw der Armee unterstellt. Sie hält die aktuelle Situation "für sehr bedrohlich" und verweist auf die Entwicklung in Kasachstan - daran sehe man doch, wie schnell sich die Dinge entwickeln könnten. "Das Risiko, dass sich so ein Szenario bei uns wiederholt wird oder dass es einen großangelegten Angriff geben wird, bleibt hoch", befürchtet sie.
Vorerst können sie noch lachen
Trotz solch düsterer Gedanken: Als der bärtige Referent anfängt, ist die Stimmung gelöst. Welche Gebäude besonders geschützt werden müssten, fragt er. Alle antworten: Parlament, Regierung, Präsidentenbüro, Heizkraftwerk, Dämme, Stadtverwaltung, Metro, Archive, ja und das Museum. Warum das Museum? Weil da Waffen drin seien, sagt einer und alle lachen.
Vor 2014 hätte sich wohl kaum jemand für so etwas gemeldet, sagt einer der Armee-Referenten. Doch der Konflikt im Donbass und der aktuelle Streit mit Russland seien eine Motivation. Russische Truppenbewegungen in Grenzgebieten zur Ukraine schüren seit Monaten Befürchtungen eines möglichen Angriffs.
Mykola Sunhurowskyj, Militärexperte am Rasumkow-Zentrum in Kiew, ordnet es so ein: Russlands Truppenansammlung dauere schon acht Jahre. Und innerhalb dieser Zeit habe Russland in dem Aufmarschgebiet alle nötigen Infrastrukturobjekte vorbereitet, um dort jede Art von Armeegruppe zu stationieren, sowohl für eine Offensive, als auch für eine Defensive.
Von Verteidigung aber könne man wohl kaum sprechen, denn die Ukraine werde "niemals selbstständig einen Krieg gegen Russland anfangen", so Sunhurowskyj, - "wir sind einfach in verschiedenen Gewichtsklassen".
Die Forderungen der Ukraine
Die Ukraine möchte EU- und NATO-Mitglied werden. Im aktuellen Konflikt um russische Truppenbewegungen drängt sie auf mehr Geld, Waffen und eine deutliche engere militärische Zusammenarbeit mit der NATO. Und sie fordert, dass seitens der NATO- und EU-Partner Druck auf Russland ausgeübt wird, auch mit sofortigen, weit strengeren Wirtschaftssanktionen. Außerdem sollten die USA Strafmaßnahmen wegen der umstrittenen deutsch-russischen Ostseepipeline Nord Stream 2 verhängen.
Die ukrainische Vizepremierministerin Olha Stefanischyna betonte zuletzt am Montag gegenüber NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ihr Land sei im Donbass zur Umsetzung des Minsker Friedensabkommens bereit. Die Forderungen Moskaus an die NATO und die USA könne man "nicht als Verhandlungsposition" ansehen - "ein Aggressor hat kein Recht, Forderungen zu stellen, bis russische Panzer die ukrainischen Grenzen verlassen."
Russland versuche, seine Agenda durchzusetzen, anstatt an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die Ukraine sei ein souveränes Land, das Verträge und Allianzen selbst wähle. Die euro-atlantische Integration sei kein Verhandlungsgegenstand.
Der Kiewer Politologe Wolodymyr Fessenko hatte sich von den Gesprächen in Genf nichts versprochen und glaubt ohnehin an keinen Angriff - es gebe noch nicht genügend russische Truppen an der Grenze. Allerdings reichten die russischen Kontingente für lokale Militäroperationen vollkommen aus, insbesondere für die Eskalation des Krieges im Donbass. Dort kämpfen seit fast acht Jahren ukrainische Armee und prorussische Separatisten. Laut Kiew und westlichen Partnern ist Russland Kriegspartei - was Moskau bestreitet.
Vorbereiten, schützen - und auch kämpfen?
Andrij aus Kiew erwartet vom Westen oder Gesprächen wenig. Die Möglichkeit eines russischen Angriffs nimmt der grauhaarige Lkw-Fahrer ernst. Man müsse sich auf einen Krieg vorbereiten, sagt er. Wenn der Feind komme, müssen man gegen ihn kämpfen.
Marta Juskiw, die Freiwillige der Kiewer Territorialen Verteidigung, sieht ihre Rolle so: Ihr sei klar, dass sie nicht an die Front nicht gehen könne - sie habe Kinder, Familie, eine Arbeit. Vielleicht sei sie auch psychisch nicht ganz bereit. "Aber mein Land auf diesem Territorium Kiew schützen - das werde ich auf jeden Fall. Und diese territoriale Verteidigung gibt mir diese Möglichkeit.
Russlands Militärmacht dürfte die Ukraine wenig entgegenzusetzen haben - dennoch wollen sich diese Teilnehmer des Kurses in Kiew auf den Ernstfall vorbereiten.