Auf der Suche nach der europäischen Identität Keine Liebe auf den ersten Blick
Wieviel EU ist gut, wieviel Eigenes soll bewahrt werden? Debatten, die in fast allen EU-Staaten geführt werden. Denn Europa ist nützlich, manchmal ärgerlich - aber "sexy" ist es nicht. Oder noch nicht? Europas Identität war Thema in Amsterdam, der letzten Station der tagesthemen-Europatour.
Von Fabian Grabowsky, tagesschau.de
Gibt es irgendjemanden, der feuchte Augen bekommt, wenn die Europa-Fahne gehisst wird? Die Antwort ist: vielleicht. Aber dieser Irgendjemand steht mit seiner Leidenschaft für Europa ziemlich alleine da. Zumindest noch.
Dabei füllen die Hoffnungen auf zusammenfindende EU-Bürger seit jeher die Sonntagsreden der großen Europäer. Jürgen Habermas und Jacques Derrida jubelten angesichts der Proteste gegen den Irak-Krieg: Dies "könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen". Rückblickend ist klar: Das fiel aus.
Montanunion, EWG und EG wurden nach dem Krieg geschaffen, um Westeuropa gegen den Ostblock zu einen und Westdeutschland einzubinden. Und nicht, um der Kern einer gesamteuropäischen Gefühligkeit zu bilden. Tränen gab es da zwar bei Entdeckungstouren ins ehemals verfeindete europäische Ausland oder beim Abschied der französischen Austauschschüler - die gut geölte Maschine EU aber ließ man vor sich hin schnurren und wachsen.
Nationale Identität vs. Supranationale Identität
Dass es mit Europa wie am Schnürchen lief, das ist lange her. Beim Nein der Dänen zum Maastricht-Vertrag, der die EU gründete, knirschte die Maschinerie 1992 erstmals. Beim französischen und niederländischen Nein zur EU-Verfassung im Jahr 2006 und aktuell bei Irlands Ablehnung des Lissabonner Reformvertrags wurde aus dem Knirschen eine Zerreißprobe.
Der zarte Sprössling EU-Identität steht zudem weiter im Schatten nationaler, regionaler oder lokaler Identitäten - den er eh nur ergänzen könnte. Das Eurobarometer der EU zeigte im Frühjahr 2007: Je rund 90 Prozent der Befragten fühlten sich mit ihrem Heimatort oder ihrem Heimatland "verbunden". Von der EU sagten das nur 53 Prozent.
Dem "größten Noch-Nicht-Volk der Erde" fehle der "Vorrat an Großerzählungen und Mythen" der Staaten, schreibt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie. Welche Debatte zwischen Iren, Zyprern, Deutschen und Bulgaren soll an deutsche Dauerbrenner wie Wirtschaftswunder, RAF oder Mauerfall herankommen? Die Medien können nicht helfen: Sie bleiben auf ihre Herkunftsländer fixiert. Die Sprachenbarrieren sind bei 23 Amts- und 60 weiteren Sprachen massiv. Und nicht einmal die Grenzen Europas sind klar.
Beliebt und nützlich ...
Trotzdem ist die EU beliebter als oft angenommen. Das Eurobarometer ermittelte im vergangenen Herbst: 53 Prozent der EU-Europäer sind für die Mitgliedschaft ihres Landes, nur 15 Prozent dagegen. Diese Werte sind seit Jahren einigermaßen stabil. Das EU-Image kommt ebenfalls positiv weg. Und im Frühjahr 2007 gab eine Mehrheit an, sie identifiziere sich mit der Europafahne - in Deutschland sogar zwei Drittel.
Die Bürger meinen auch, dass die EU nutzt: 56 Prozent meinten, ihr Land profitiere von der Mitgliedschaft - diese Werte sind seit der Osterweiterung dank der Neu-EU-Bürger klar gestiegen. Im aktuellen ARD-DeutschlandTrend sehen zum ersten Mal seit zehn Jahren mehr Befragte Vorteile als Nachteile – wenn auch auf bescheidenem Niveau. In der aktuellen Krise meinten drei von vier Befragten, die EU helfe "unsere Interessen auch gegenüber anderen Weltregionen besser zu vertreten".
... aber auch undurchsichtig und übergriffig
Nach wie vor wirkt die EU auf ihre Bürger aber zugleich undurchsichtig und übergriffig: Jeweils fast zwei Drittel der Befragten sagten im ARD-DeutschlandTrend auch, die EU mische sich zu viel ein und sie verstünden sie nicht.
Und: So gut die Bewertungen auch sein mögen, die EU bleibt ein Fremdkörper, die Bürger nehmen an ihr nicht teil. Die Wahlbeteiligung zum Europaparlament sank von 63 Prozent bei der Premiere 1979 auf 45,6 Prozent bei der Wahl 2004. Im DeutschlandTrend sagten jetzt nur 44 Prozent, sie gingen "ganz sicher", am 7. Juni wählen. Das steht in krassem Gegensatz dazu, dass das Parlament immer mehr Einfluss bekommen hat.
Der Schatten des "Wir"
Wird die europäische Identität also überhaupt irgendwann stärker werden? Der Erfolg der Nationalstaaten könnte doch ein Vorlage für eine EU-Identität sein. Auch die nationalen Identitäten haben sich - oder wurden - erst über die Jahrhunderte entwickelt.
Aber gerade das Modell Nationalstaat zeigt: Identität hat ihren Preis - sie grenzt immer auch ab. Ein "Dilemma", nennt Marcel Viëtor von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Gespräch mit tagesschau.de dieses "Wir sind wir, weil ihr nicht wir seid". Die europäische Idee sei zwar schön, aber eben nicht ohne dieses Gegenbild jenseits der blau-gelben Grenze zu haben - sei es Islamismus, Russland oder die USA. Je stärker eine gemeinsame Identität betont werden müsse, desto deutlicher müsse die Abgrenzung zu den "Anderen" sein. Die Frage sei, ob es das wert ist.
"Liebe entsteht so nicht"
Momentan sei die Identifikation mit der EU aber wohl eher noch weiter rückläufig, die Osterweiterung habe die EU noch unübersichtlicher gemacht. Bleibt also vorerst eine schnurrende Regulierungsmaschinerie - die zwar immer mächtiger wird, aber eben nicht attraktiver? "Liebe entsteht dadurch natürlich nicht", sagt Viëtor. Aber immerhin wolle auch niemand für die EU sterben. Und damit könne er leben.
Das sieht Daniela Schwarzer, EU-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, anders. Sie sei "sehr vorsichtig" mit optimistischen Prognosen, sagt sie tagesschau.de. Was aber fehle, sei eine rein europäische Politik mit all den nötigen Streits, Kontroversen – und Kompromissen. Und charismatische, wirklich europäische Politiker, die nicht ihren nationalen Parteizwängen unterliegen - sondern Europa ein Gesicht geben.