Krieg gegen die Ukraine Die Toten im Wald von Isjum
In einem Wald nahe der Stadt Isjum in der Region Charkiw wurden die Gräber von etwa 450 Menschen gefunden. Nun sollen sie identifiziert und ihre Todesursache ermittelt werden. Forensiker exhumieren die Leichen.
Er geht ganz behutsam vor, wenn er die Leichen untersucht. Hinter der weiß-roten Polizeiabsperrung kniet ein Forensiker im weißen Schutzanzug auf dem weichen Waldboden und rollt einen Toten vorsichtig auf die Seite.
Gerade erst exhumiert liegt dieser schmal und irgendwie schutzlos in einem großen weißen Plastiksack. Die verkrümmten Glieder stecken unverkennbar in den modernden Resten einer ukrainischen Armee-Uniform.
Der Tote hat einen Strick um den Hals und wurde laut Behörden erwürgt. Er ist einer von 17 ukrainischen Soldaten aus dem bisher einzigen Massengrab, das im Wald von Isjum gerade gefunden wurde, sagt der Leiter der Militärverwaltung der Region Charkiw Oleg Sinegubow:
Wenn wir über Hinweise von Folter sprechen dann kann ich sagen: Dieser eine wurde mit einem Strick um den Hals gefunden und einige weitere mit auf dem Rücken zusammengebunden Händen. Wir untersuchen alles gerade noch, aber ich denke, 99 Prozent der Menschen werden eines nicht natürlichen Todes gestorben sein. Alles wird ordentlich untersucht und ermittelt - aber das hier deutet darauf hin, dass die Welt erkennen muss, dass hier ein Völkermord an den Menschen in der Ukraine stattfindet.
Bei der Exhumierung von Leichen im Wald nahe der ukrainischen Stadt Isjum
Beißender Leichengeruch
Mindestens 445 weitere Menschen liegen in Einzelgräbern hier im Wald von Isjum. Zehn Ermittlerteams sind vor Ort, bewacht von Polizei und Soldaten. Die Ermittler schaufeln weitere Gräber auf und heben die umwickelten Körper vorsichtig heraus.
Ein beißender Leichengeruch liegt in der Luft und viele tragen eine Maske vor dem Mund. Auch Sergej aus dem fast sechs Monate lang besetzten Isjum ist hergekommen. Er sieht schrecklich müde aus, so wie viele in der Stadt.
"Ich wusste dass es hier irgendwo im Wald ist und bin das erste Mal seit der Befreiung hier. Ich glaube, mein Nachbar aus dem dritten Stock und seine Familie sind hier - sieben Menschen", sagt Sergej.
Mit lokalen Bestattern beerdigt
Die Menschen im Wald von Isjum wurden zwischen März und Mai getötet, vor allem durch russische Bomber und Artilleriebeschuss, sagt der Chefermittler der Polizei der Region Charkiw, Sergej Bolwinow.
Während der russischen Besatzung haben die Bewohner von Isjum die Toten gemeinsam mit lokalen Bestattern beerdigt, laut Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft auf Druck der Besatzer. Diese Stadtbewohner sind wichtige Zeugen und sie haben viele Daten akribisch aufgelistet - in einem dicken, karierten Heft, das Chefermittler Bolwinow in den Wald mit gebracht hat.
"Die Menschen haben dieses Logbuch angelegt und hier sehen sie den Familiennamen und das Datum der Beerdigung. Auf den Holzkreuzen der Gräber steht auch eine Nummer, aber nicht immer der Name. Manchmal steht da auch 'nicht identifiziert'", sagt Bolwinow.
Mehr Gräber möglich
Es sei gut möglich, dass noch mehr solcher Gräber in den befreiten Gebieten gefunden würden, glaubt Generalstaatsanwalt Andrij Kostin. Er steht ist zum Beginn der Exhumierung nach Isjum gekommen und viel in den befreiten Gebieten unterwegs.
"Vor einigen Tagen war ich auch in Balaklija, wo Menschen gefoltert worden sind. Wir untersuchen zurzeit alle Orte, an denen russisches Militär, der Geheimdienst FSB und weitere waren. Wir haben Informationen über das Schlagen und Foltern von Zivilisten an diesen Orten", sagt Kostin.
Erste Untersuchung abgeschlossen
Die erste Untersuchung der Leiche aus dem Massengrab mit ukrainischen Soldaten ist abgeschlossen und der Forensiker im weißen Schutzanzug zieht den Reißverschluss des großen Plastiksacks über der Leiche zu.
"Ist das Nummer sieben?", fragt der Ermittler, der alles, was der Forensiker sagt, notiert. "Ich glaube das war Nummer acht", antwortet der Forensiker sachlich und zählt die Leichenreihe durch. Ebenso behutsam wie zuvor untersucht er die nächste Leiche.
Erste Ergebnisse in einem Monat
Nach ihrer Exhumierung werden die Toten aus dem Wald von Isjum nach Charkiw gebracht und dort weiter ausführlich untersucht. Erste Ergebnisse könnte es in einem Monat geben. Auch die Angehörigen von bisher nicht identifizierten sollen möglichst gefunden werden.
Ob seine Nachbarn wirklich unter den Toten im Wald sind wird Sergej also erst später erfahren. "Ich weiß nicht, wo all diese Gefühle enden, diese Leere, diese Unsicherheit. Aber jetzt habe ich wenigstens keine Angst mehr", sagt Sergej.