Fragen und Antworten Wie geht die EU mit den Flüchtlingen um?

Stand: 17.04.2011 15:05 Uhr

Seit Beginn des Umsturzes in Nordafrika sind Zigtausende auf die italienische Insel Lampedusa und nach Malta geflohen. Doch die meisten Flüchtlinge bleiben in Nordafrika. Dennoch gibt es Streit in der EU über den Umgang mit den Flüchtlingen. tagesschau.de hat Fragen und Antworten dazu zusammengestellt.

Woher kommen die Flüchtlinge, die in Italien und Malta landen?

Seit Jahresbeginn sind laut Schätzungen mehr als 30.000 Flüchtlinge aus Nordafrika in Italien angekommen (seit Mitte Februar 2011 laut UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR 11.230), davon die meisten aus Tunesien. Allein auf der nur 20 Quadratkilometer großen Insel Lampedusa landeten seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali im Januar weit mehr als 20.000 Flüchtlinge an. Nur 130 Kilometer von der tunesischen Küste entfernt, ist die rund 20 Quadratkilometer große Insel seit langem für viele Afrikaner ein "Tor nach Europa".

Auf dem Weg übers Meer geraten zahlreiche Schiffe in Seenot. Die Boote sind häufig in einem katastrophalen Zustand. Hunderte Menschen sind bereits ertrunken. Derzeit werden laut der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR insgesamt 800 Menschen vermisst, die sich aus Libyen über das Mittelmeer nach Europa aufgemacht haben.

Die Flüchtlinge sind meistens keine Asylbewerber, sondern Arbeitssuchende - überwiegend junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren. Solche "Wirtschaftsmigranten" müssen nach Ansicht der EU in ihre Heimat zurück, weil sie weder unter Krieg noch Verfolgung zu leiden haben.

Auf Malta sind laut UNHCR seit Mitte Februar 2011 mehr als 1100 Flüchtlinge aus Libyen angekommen. Sie stammen jedoch nicht ursprünglich aus Libyen, sondern es handelt sich in den meisten Fällen um Vertriebene aus Eritrea und Somalia, die sich nun vor der Gewalt in Libyen in Sicherheit bringen wollen. In einem Schreiben des UNHCR heißt es dazu: "Über die derzeitige Situation in Libyen sind nur wenige Informationen verfügbar, jedoch existieren glaubhafte und alarmierende Berichte über exzessive Gewaltanwendung gegenüber Zivilisten und Hunderte von Opfern. Berichten zufolge richtet sich die Gewalt gezielt auch gegen die großen Ausländergruppen, einschließlich der im Land lebenden Flüchtlinge und Schutzsuchenden."

Ist Europa das Hauptziel der Flüchtlinge aus Libyen?

Nein. Bisher sind laut UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR seit Jahresbeginn insgesamt mehr als 450.000 Menschen aus Libyen in die Nachbarländer Tunesien, Ägypten, Niger, Algerien, Tschad, Sudan, Italien und Malta geflohen. Davon kamen aber nur die wenigsten in eines der beiden EU-Länder, die allermeisten flohen in die Nachbarländer auf dem afrikanischen Kontinent.

Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) landen immer mehr Flüchtlinge sogar im bitterarmen südlichen Nachbarland Niger, das früher ein wichtigstes Transitland für Afrikaner auf dem Weg nach Norden war.

Das UNHCR arbeitet derzeit nach eigenen Angaben von Ende März 2010 auf der Grundlage, dass jeden Tag 1500 bis 2500 weitere Flüchtlinge Libyen verlassen. Der gefährliche Seeweg ist häufig der einzige Fluchtweg. Doch viele Menschen werden laut UNHCR in Libyen wegen der der schnellen Verlagerung der Kämpfe an der Flucht gehindert. Innerhalb Libyens seien 600.000 Menschen auf Hilfe angewiesen.

Kommen nur "Wirtschaftsflüchtlinge" nach Europa?

Die Mehrheit der Flüchtlinge, die zurzeit in Italien ankommen, hat aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimatländer verlassen: Das kann bedeuten, dass sie Arbeit in reicheren Ländern suchen, um sich und ihre Familie zu ernähren - aber auch, dass in ihrer Heimat Lebensmittelknappheit oder sogar Hungersnot herrscht. Die UNO hat Libyen-Flüchtlingen in Tunesien befragt: 80 bis 90 Prozent haben berichtet, dass ihnen Händler in Libyen keine Lebensmittel mehr verkauft haben. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) gibt folgende Preissteigerungen bekannt: Brot plus 110 Prozent, Reis plus 88 Prozent, Speiseöl plus 58 Prozent.

Aber es kommen auch Asylbewerber, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen. Auf Malta machen sie den Großteil der Flüchtlinge aus. Einige von ihnen gehören zu den Flüchtlingen aus dem südlicheren Afrika, die ab 2009 in Lagern und Gefängnissen in Libyen festgehalten wurden, nachdem Italien mit dem nordafrikanischen Land ein Abkommen geschlossen hatte, sie an der Weiterreise zu hindern.

Der Unterschied ist auch für die Behandlung der Flüchtlinge in den europäischen Einreiseländern wichtig: Wenn es Asylbewerber sind, ist nach dem Schengen-Abkommen der Staat, in dem sie einreisen und Asyl beantragen, zuständig für die Entscheidung, ob ihnen internationaler Schutz gewährt wird. Wirtschaftsmigranten - also Menschen, die keinen Asylantrag stellen - können sofort abgeschoben werden, wie es momentan auch in Italien geschieht.

Wie sah die Situation vor dem Umbruch in den nordafrikanischen Staaten aus?

Vor den politischen Umbrüchen in Nordafrika kam die Mehrzahl der Flüchtlinge aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahelzone - aus Ländern wie Somalia, Eritrea und Ghana. Sie flohen wegen der Armut in ihren Heimatländern oder vor Krieg und Verfolgung. Letzteres ist für die meisten der Grund, Asyl zu beantragen. Laut Pro Asyl haben sie gute Chancen auf Anerkennung.

2008 kamen noch 36.000 Flüchtlinge über das Transitland Libyen in Booten nach Italien. Die italienische Regierung schloss daraufhin mit dem libyschen Machthaber Gaddafi ein Abkommen, das die Flüchtlinge an der Weiterreise hindern sollte. 2009 kamen dann nur noch 4000 Flüchtlinge über Libyen nach Italien. Unter Gaddafi wurden die meisten Flüchtlinge - auch potenzielle Asylbewerber - in Libyen festgehalten und dort in Lager und Gefängnisse gesteckt.

Wie reagiert die EU auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen seit dem Umbruch in Nordafrika?

Die EU-Staaten wollen auf Drängen Frankreichs und Italiens das Schengen-Abkommen präzisieren. Zwischen den beiden Ländern war es zum Streit gekommen, weil Italien Flüchtlingen aus Nordafrika Visa zur Weiterreise in andere EU-Länder ausgestellt hatte. Frankreich führte Grenzkontrollen ein, um die Flüchtlinge zurückzuschicken. Dänemark kündigte zum 11. Mai an, in Zukunft wieder regelmäßige Zollkontrollen einzuführen. Regelmäßige Kontrollen an den Grenzen zwischen den Schengen-Ländern verstoßen gegen die Vertragsbestimmungen. Die Reisefreiheit gilt als "Kernpunkt" des europäischen Einigungsprozesses.

Nach dem Schengen-Vertrag liegt es im Ermessen der Mitgliedstaaten, bei einer Gefährdung der inneren Sicherheit an den Grenzen zeitweise Personenkontrollen vorzunehmen, die mit dem Vertrag abgeschafft worden waren. Davon wurde bei Weltwirtschaftsgipfeln oder der Fußball-Weltmeisterschaft Gebrauch gemacht. Die Ausnahmetatbestände will die EU nun klarer definieren.

Am 11. April 2011 hatten die EU-Staaten beschlossen, Italien keine Unterstützung bei der Versorgung und Verteilung der Flüchtlinge aus Nordafrika zu gewähren. Italien hatte gefordert, diese auf mehrere Partnerländer zu verteilen. Die EU-Innenminister sehen Italien mit der Zahl der Flüchtlinge aber nicht als überfordert an.

Für eine Verteilung der Flüchtlinge in der EU hätten die Minister die EU-Richtlinie "über den Umgang mit Flüchtlingen im Falle eines Massenzustroms" aktivieren müssen, die die Europäische Union im Jahr 2001 als Konsequenz aus den Folgen der Balkankriege verabschiedet hatte. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström nannte ein mögliches Inkraftsetzen eines Verteilungsmechanismus für die Flüchtlinge aus Tunesien und die Vertriebenen des Libyenkrieges jedoch "voreilig".

Malta hingegen erhält auf Beschluss der EU-Innenminister sofortige Unterstützung bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs. Deutschland nimmt hundert Flüchtlinge auf; auch Belgien, Portugal, Schweden, Spanien und Ungarn wollen Malta Flüchtlinge abnehmen. Anders als Italien stoße der winzige Inselstaat wirklich an seine Grenzen, so Malmström.

Die EU-Innenminister vereinbarten zudem, die Mission der Grenzschutz-Agentur Frontex auszuweiten. Nach ihrem Willen sollen direkt vor der tunesischen Grenze europäische Schiffe patrouillieren und abgefangene Flüchtlinge sofort in ihr Herkunftsland zurückbringen. Derzeit sind lediglich fünf italienische Schiffe im Rahmen der Frontex-Mission "Hermes" unterwegs, aber nur vor der italienischen Küste. Tunesien lehnt es bisher ab, Frontex-Schiffe in seine Hoheitsgewässer zu lassen.

Die EU verhandelt mit Tunesien über die Flüchtlingsproblematik. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso stellte dem Land eine stärkere finanzielle Unterstützung in Aussicht, sollte es "bei der Bekämpfung des Flüchtlingsstroms" stärker kooperieren. In den Jahren bis 2013 könne die Finanzhilfe um 140 Millionen Euro und damit um mehr als die Hälfte aufgestockt werden, sagte Barroso. Dafür verlange die EU jedoch eine engere Zusammenarbeit der tunesischen Regierung, etwa bei der Wiederaufnahme von Flüchtlingen. Mit Libyen kann es derzeit wegen des Krieges und des Machtvakuums keine Verhandlungen geben.

Gibt es bilaterale Einzelvereinbarungen und neue Gesetze aufgrund der vielen Flüchtlinge aus Libyen?

In der Vergangenheit wurden immer wieder Vereinbarungen zwischen EU-Staaten und nordafrikanischen Ländern getroffen, die jedoch nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnungen in einigen dieser Länder de facto wirkungslos sind.

Anfang April hat Italien mit Tunesien ein bilaterales Abkommen geschlossen, wonach alle nach dem 4. April 2011 in Italien angekommenen Migranten sofort zurückgeschickt werden. Die italienische Regierung einigte sich mit der tunesischen Regierung darauf, dass 60 Flüchtlinge pro Tag direkt abgeschoben werden können. Den früher eingetroffenen illegalen Einwanderern aus Nordafrika stellt die italienische Regierung aus "humanitären Gründen" eine kurzzeitige Aufenthaltsgenehmigung aus – zum Ärger der EU-Partner, die jedoch laut dem Europarecht-Experten Thym diese Visa nicht anerkennen müssen.  

Ausländer, die illegal nach Frankreich kommen, können seit Mitte Mai 2011 künftig einfacher zurückgeschickt werden. Das französische Parlament verabschiedete am 11. Mai ein entsprechendes Gesetz. Wenn etwa Bootsflüchtlinge an einer französischen Küste landen, kann ad hoc eine sogenannte Wartezone geschaffen werden. Dies bedeutet, dass die Flüchtlinge rechtlich betrachtet noch keinen französischen Boden betreten haben und einfacher wieder zurückgeschickt werden können. Frankreich will auf diese Weise Zustände wie auf der italienischen Flüchtlingsinsel Lampedusa verhindern. Die Opposition warf der Regierung vor, mit dem Gesetz Stimmen im rechtsextremen Lager fischen zu wollen.

Fragen und Antworten zusammengestellt von Nea Matzen, tagesschau.de