Politologin Koß analysiert Lage im Gazastreifen Die Hamas auf verlorenem Posten?
Viele Länder des Westens stufen die Hamas als Terrororganisation ein. Aber auch in der arabischen Welt gerät die palästinensische Organisation unter Druck. Politologin Maren Koß erklärt im Interview mit tagesschau.de, wem die Hamas nicht "islamisch" genug ist und was der Autoritätsverlust bedeutet.
tagesschau.de: Warum eskaliert der Konflikt ausgerechnet jetzt und auf diese Art?
Maren Koß: Der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen dauert schon seit Monaten an. Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2012 führte Israel militärische Aktionen gegenüber dem Gazastreifen durch. Die jetzige Eskalation könnte mit den Wahlen in Israel im kommenden Januar zusammenhängen. Möglich ist, dass sich der israelische Staat jetzt stark zeigen will, um bessere Chancen in den kommenden Wahlen zu haben. Das gilt insbesondere für Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Für die Hamas ist die aktuelle Eskalation nicht besonders zweckdienlich. Erst vor kurzem hat der Emir von Katar mit seinem Besuch im Gazastreifen die politische Isolation der Hamas ein wenig aufgehoben. Er hat auch die ökonomische Isolation gelockert, indem er Unterstützung in Höhe von 500 Millionen US-Dollar in Aussicht stellte. Andererseits gewinnt die Hamas durch den aktuellen Konflikt an Popularität innerhalb der palästinensischen Bevölkerung und der gesamten arabischen Welt.
Maren Koß hat Politik- und Islamwissenschaften in Hamburg studiert. Zwei Jahre ihrer Ausbildung verbrachte sie in Damaskus, um Arabisch zu lernen. Ihre Forschungsschwerpunkte am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien liegen auf dem politischen Islam und den islamistischen Organisationen.
Hamas für Salafisten nicht "islamisch" genug
tagesschau.de: Die Türkei, Katar und vor allem auch Ägypten erklären sich mit der Hamas solidarisch. Die westlichen Länder bezeichnen sie als Terrororganisation. Wer oder was ist die Hamas wirklich?
Koß: Die Hamas weist eine sehr heterogene Struktur auf und vereint verschiedene Elemente: politische, soziale und militärische. Der international ausgerichtete Flügel, die Exilführung, war lange in Damaskus angesiedelt und hat sich jetzt, angesichts der Lage in Syrien, nach Kairo und Katar verlagert. Die Exilführung war im Rahmen des arabischen Frühlings vor allem daran interessiert, sich in der arabischen Welt zu legitimieren, und bereiste zahlreiche Großstädte in der arabischen Welt wie Tunis oder Kairo. Die Führung der Hamas in Gaza selbst hat mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, vor allem mit den miserablen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen.
Seit einigen Jahren haben sich in Gaza auch salafistische Gruppen etabliert, die sich nicht vollständig von der Hamas kontrollieren lassen. Erst im Zuge der Ermordung der ägyptischen Soldaten auf dem Sinai vor einigen Wochen hat die Hamas im Gazastreifen zahlreiche Salafisten festgenommen. Diese Gruppen erkennen die Hamas nicht als politische und religiöse Autorität an und sind daher eine politische und ideologische Herausforderung. Ihnen ist die Hamas zum Teil nicht "islamisch" genug. Es ist möglich, dass auch von diesen Gruppen Gewalt gegen Israel ausgeht.
Erschwert wird die Situation auch durch die parallelen staatlichen Strukturen der Hamas im Gazastreifen und Fatah im Westjordanland, von parallelen Sicherheitsbehörden bis hin zu Bildungssystemen.
In der Schlüsselrolle: Ägypten
tagesschau.de: Wie stark ist die Hamas und wie groß ist ihr Einfluss auf die verschiedenen Splittergruppen der Organisation?
Koß: Die Hamas hat innerhalb des Gazastreifens eine Regierung aufgebaut und ist empfindlich verletzt worden, als Israel die Institutionen angriff. Sie hat nicht die volle Kontrolle über alle Gruppierungen, wie die Salafisten, ist aber nach wie vor eine starke Kraft.
tagesschau.de: UN-Generalsekretär Ban Ki Moon will zwischen Hamas und Israel vermitteln. Wie groß ist seine Chance?
Koß: Grundsätzlich ist natürlich die UN der richtige Ansprechpartner, wenn es um die Besetzung der Vermittlerrolle geht. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Ägypten einbezogen wird. Präsident Mursi und die ägyptische Muslimbruderschaft sind ideologisch eng mit der Hamas verbunden. Die Muslimbruderschaft gilt als die Mutterorganisation der Hamas. Gegenwärtig versucht die Hamas, die Kontakte zu Ägypten zu intensivieren, um sich stärker aus der politischen und ökonomischen Isolation zu befreien.
Ägypten spielt auch eine wichtige Rolle, wenn es um die palästinensische Wiedervereinigung geht. Nur wenn sich Hamas und Fatah langfristig annähern und sich wieder vereinigen, können die parallelen Strukturen im Gazastreifen und Westjordanland aufgehoben werden. Ägypten hat sich in dieser Frage in der Vergangenheit schon sehr eingesetzt.
Mehr Gesprächsbereitschaft auf allen Seiten
tagesschau.de: Welche Rolle spielt der Iran als Geldgeber und Waffenlieferant für die Hamas?
Koß: In der jüngeren Vergangenheit ist die Position des Iran etwas schwächer geworden, weil sich die Hamas im Rahmen des arabischen Frühlings von Syrien losgesagt hat. Das Hamas-Politbüro in Damaskus wurde kürzlich von den syrischen Behörden geschlossen, nachdem sich die Hamas auf die Seite der syrischen Rebellen gestellt und damit gegen das Regime, das die Hamas jahrelang unterstützt hatte, Position bezogen hat. Im Zuge dieses Positionswechsels hatte der Iran gedroht, die finanzielle Unterstützung für die Hamas einzustellen. Es lässt sich aber kaum feststellen, inwieweit das den Tatsachen entspricht.
tagesschau.de: Glauben Sie, dass der Konflikt von einer Seite gewonnen werden kann? Oder wird es dann auf jeden Fall zwei Verlierer geben, weil der Untergang des einen auch den Untergang des anderen bedeutet?
Koß: Der letzte Gaza-Krieg von 2008/09 hat die Lage weder zugunsten der einen noch zuungunsten der anderen Partei verändert. Langfristig kann dieser Konflikt nur durch die palästinensische Wiedervereinigung aufgelöst werden. Nur dann qualifizieren sich die Palästinenser aus israelischer Sicht als Ansprechpartner. Obwohl Israel einen einheitlichen Ansprechpartner fordert, verweigert es bislang der Fatah die Gesprächsbereitschaft, sollte diese sich mit der Hamas wieder vereinigen. Auch von Seiten der Hamas besteht Uneinigkeit bezüglich direkter Gespräche mit Israel. Während einige Stimmen dieses durchaus als Möglichkeit einräumen, lehnen andere direkte Gespräch ab. Daher muss die Gesprächsbereitschaft auf israelischer und palästinensischer Seite größer werden, um den Konflikt langfristig lösen zu können.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de