ARD-Interview mit HDP-Chef Demirtas warnt türkisches Parlament
In dieser Woche berät das türkische Parlament darüber, ob prokurdische Abgeordnete ihre Immunität verlieren sollen - wegen Terrorvorwürfen. ARD-Korrespondent Baumgarten hat mit Parteichef Demirtas gesprochen. Dieser warnt vor den Konsequenzen einer Aufhebung.
Der Vorsitzende der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, befürchtet eine weitere Eskalation der Gewalt in der Türkei, sollte den HDP-Abgeordneten die parlamentarische Immunität abgesprochen werden. In dieser Woche berät das türkische Parlament über eine vorübergehende Verfassungsänderung, durch die insgesamt 136 Parlamentarier ihre Immunität verlieren würden und damit strafrechtlich verfolgt werden könnten. Davon betroffen wären 50 der 59 HDP-Abgeordneten - darunter auch Demirtas.
Der 43-Jährige kritisierte in einem Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul, der Entzug der Immunität richte sich in erster Linie gegen seine Partei. Sollten die HDP-Abgeordneten sie verlieren, verlören die Bürger auch "ihren Glauben an eine demokratische und friedliche Politik komplett". Die Menschen würden dann nach "anderen Mitteln und Wegen" suchen, warnte Demirtas. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan warf er vor, möglicherweise einen Bürgerkrieg provozieren zu wollen, um aus dem Chaos heraus ein Präsidialsystem einführen zu können.
Will Präsident Erdogan einen Bürgerkrieg provozieren? Das zumindest legt HDP-Chef Demirtas nahe.
In der Türkei, sagte der HDP-Chef weiter, herrschten Krieg und innere Auseinandersetzungen. Das Land bewege sich Schritt für Schritt auf ein Ein-Mann-System zu. Das einzig echte Hindernis auf diesem Weg sei die HDP. Wenn diese aus dem Parlament vertrieben werde, ihre Abgeordneten in Eilverfahren verurteilt würden und dadurch ihre Mandate verlören, könne Erdogan durch eine Neuwahl des Parlaments eine ausreichende Mehrheit für eine neue Verfassung erlangen.
Die HDP - der verlängerte Arm der PKK?
Gegen Demirtas und 49 andere HDP-Abgeordnete werden vor allem Terrorvorwürfe erhoben. Die prokurdische HDP wird von Regierungsseite sowie Vertretern anderer Parteien häufig als verlängerter Arm der PKK bezeichnet. Sollte das Parlament über die Aufhebung der Immunität der insgesamt 136 Abgeordneten abstimmen, dürfte die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit zustande kommen.
Die prokurdische HDP hatte im Juni vergangenen Jahres mit 13,1 Prozent überraschend deutlich die Zehn-Prozent-Hürde genommen und Erdogans AKP herbe Verluste beigebracht, die zu einem vorläufigen Verlust der absoluten AKP-Mehrheit geführt hatten. Bei der Wahl am 1. November war die HDP auf 10,7 Prozent gekommen. Die AKP konnte hingegen die absolute Mehrheit zurückgewinnen. Während des Wahlkampfs war es zu heftigen Angriffen auf HDP-Einrichtungen sowie zu zwei massiven Terroranschlägen auf Linke und Friedensaktivisten mit mehr als 130 Toten gekommen.
Ende Juli vergangenen Jahres hatten die als Terrororganisation bezeichnete PKK und die Regierung in Ankara einen mehr als zwei Jahre geltenden Waffenstillstand aufgekündigt. Seitdem sollen laut Regierungsangaben gut 4600 PKK-Kämpfer und 450 Sicherheitskräfte getötet worden sein. Eine Bestätigung dieser Zahlen durch unabhängige Quellen gibt es nicht.