EU-Ratspräsidentin macht Druck Merkel will Beschluss ohne Polen fassen
EU-Ratspräsidentin Merkel scheint mit ihrer Geduld am Ende zu sein: Sie will den Rahmen für einen neuen EU-Vertrag notfalls ohne Polen verabschieden. Man werde "Europa nicht auf der Stelle treten lassen", sagte Regierungssprecher Wilhelm beim Gipfel in Brüssel. Frankreichs Präsident Sarkozy und der britische Premier Blair bemühen sich, Polen doch noch zum Kompromiss zu bewegen.
EU-Ratspräsidentin Angela Merkel scheint beim Gipfel in Brüssel nun durchzugreifen. Nachdem Polen ihren Kompromissvorschlag zum Abstimmungsverfahren abgelehnt hat, droht sie nun damit, den Beschluss für den Rahmen des neuen EU-Vertrags notfalls ohne Polen zu fassen. Man werde "Europa nicht auf der Stelle treten lassen", warnte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in Brüssel.
"Wir werden deshalb versuchen, ein starkes Signal der Handlungsfähigkeit dieses Gipfels zu erreichen und die vielfältigen Fortschritte der Gespräche der vergangenen sechs Monate in einem gemeinsamen Mandat der anderen Mitgliedstaaten für die Regierungskonferenz festzuhalten", so Wilhlelm. Polen habe dann die Chance, "sich in der Regierungskonferenz im Herbst dem europäischen Konsens anzuschließen", sagte der Regierungssprecher weiter. Die Regierungskonferenz kann allerdings einen Vertrag nicht ohne die Zustimmung Polens abschließen.
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.
Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.
Kanzlerin Merkel hatte vorgeschlagen, die umstrittene "doppelte Mehrheit" beim Abstimmungsverfahren zu verschieben und erst ab 2014 in Kraft treten zu lassen. Polen wies das Angebot jedoch zurück. Auch Polens Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, der Bruder des Verhandlungsführers in Brüssel, hatte das Merkel-Angebot im polnischen Fernsehen in Warschau als nicht ausreichend bezeichnet und auf sein Veto-Recht hingewiesen.
Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und der britische Premier Tony Blair versuchen zur Stunde, den polnischen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski, den Bruder des Präsidenten Lech Kaczynski, zum Kompromiss zu bewegen - und auch Merkel umzustimmen. Im Gespräch ist den Angaben zufolge, den Einstieg in das von Polen abgelehnte neue System der Stimmgewichtung noch zwei weitere Jahre auf 2016 zu verschieben.
Regierungskonferenzen müssen immer einberufen werden, wenn EU-Verträge geändert werden sollen. Normalerweise geschieht das einstimmig. Für den Abschluss einer Regierungskonferenz ist jedoch immer Einstimmigkeit erforderlich. In der Geschichte der EU wurde erst einmal eine Regierungskonferenz mit Mehrheit einberufen. Im Juni 1985 entschieden die EG-Regierungen mit sieben gegen drei Stimmen, eine Regierungskonferenz zur Ausarbeitung der "Einheitlichen Europäischen Akte" einzuberufen. Vor allem Großbritannien war damals dagegen. Die Schlussfolgerungen der Konferenz wurden dann im Januar 1986 einstimmig angenommen.
EU-Außenpolitikchef möglich
Auf dem Weg zur Einigung soll sich nach Angaben von Diplomaten dagegen die umstrittene Frage eines neuen Chefs für die EU-Außenpolitik befinden. Demnach soll dieser den Titel eines "Hohen Repräsentanten" erhalten, der aber die gleichen Kompetenzen haben soll wie der in der EU-Verfassung ursprünglich geplante Außenminister. Damit wurde den britischen Bedenken Rechnung getragen.
Um den Vertragsrahmen Großbritannien noch schmackhafter zu machen, bot die deutsche Ratspräsidentschaft der Regierung in London an, bei Fragen der Innen- und Außenpolitik weiter eigene Wege gehen zu können. Blair bestand unter anderem darauf, dass die Grundrechte-Charta kein verbindlicher Bestandteil des neuen EU-Rechts wird. Der scheidende Regierungschef zeigte sich zuversichtlich: "Wir machen Fortschritte."
Frankreichs Bedenken gegen ein klares Bekenntnis der EU zum freien globalisierten Wettbewerb konnten zerstreut werden. "Beim Mittagessen haben die Staats- und Regierungschefs Formulierungen gefunden, mit denen das Problem gelöst ist", sagte Merkels Sprecher Wilhelm. Danach solle der neue EU-Grundlagenvertrag rechtliche Sicherheit dafür bieten, dass die EU bei Kartell-Verstößen regulierend eingreifen kann, sagten Diplomaten.
Merkel strebt beim letzten Gipfel unter deutscher Präsidentschaft eine Einigung auf die zentralen Punkte des Vertrags an. Mit diesem Verhandlungsmandat soll dann eine Regierungskonferenz im Herbst den genauen Text festschreiben. Bis zur Europawahl 2009 soll der Vertrag von allen Mitgliedstaaten in Kraft getreten sein. Für den Fall eines Scheiterns haben hochrangige EU-Vertreter vor einer Spaltung der Union gewarnt.