Reaktionen auf polnische Forderungen "Kopfschütteln auf allen Seiten"
Polens Regierung hat mit ihrer Forderung nach Berechnung der Kriegstoten bei der Stimmgewichtung in der EU erhebliche Irritation ausgelöst. Österreichs Kanzler Gusenbauer sprach von einer "absurden Bemerkung". Die Forderung habe auf dem EU-Gipfel "Kopfschütteln auf allen Seiten" hervorgerufen.
Die polnische Regierung ist mit ihrer Forderung, bei der künftigen Gewichtung der Stimmen in der EU auch die polnische Opfer während des Zweiten Weltkrieges zu berücksichtigen, auf tiefes Unverständnis gestoßen.
Österreichs Bundeskanzler Alfred Gusenbauer sagte im Morgenmagazin von ARD und ZDF, der Vorstoß habe auf dem Gipfeltreffen in Brüssel "Kopfschütteln auf allen Seiten hervorgerufen". Es handele sich um eine "absurde Bemerkung". Er wies die polnische Regierung darauf hin, dass die Europäische Union selbst eine Reaktion auf die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sei. Er halte es für wenig sinnvoll, die Gräben der Vergangeheit wieder aufzureißen, um Fragen der Zukunft zu lösen.
Pöttering verweist auf Hilfe für Polen
EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering sagte am Rande des EU-Gipfels, dazu: "Mich stimmen solche Äußerungen traurig, als Deutscher und als Europäer", sagte Pöttering in Brüssel. Er empfinde es als schmerzlich, dass sie mit der Debatte um die künftige Handlungsfähigkeit der Europäischen Union vermengt würden. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass alle deutschen Regierungen nach der Wende gegenüber Polen "einen unglaublichen Goodwill" gezeigt hätten.
Der stellvertretende Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zeigte sich "erschrocken und sehr traurig" über die polnische Forderung. Die polnische Regierung wolle die Vergangenheit offenbar für einen gegenwärtigen politischen Streit instrumentalisieren, sagte Thierse im Deutschlandfunk. Die "schlimme deutsche Vergangenheit" solle nun mehr zählen als die "freundschaftliche Gegenwart". Alles, was in den vergangenen 60 Jahren passiert sei, zähle wohl nicht mehr.
Verheugen zeigt Verständnis
EU-Kommissar Günther Verheugen warb dagegen für Verständnis für die polnische Haltung. In Deutschland würden "die politischen Eliten immer noch nicht richtig verstehen, wie sensibel und wenig belastbar das deutsch-polnische Verhältnis ist", sagte Verheugen der "Berliner Zeitung".
Die deutsche Politik unterschätze die polnischen Befürchtungen einer deutschen Dominanz in Europa. Allerdings forderte Verheugen auch von Warschau Zugeständnisse. Die Regierung müsse rasch den Weg frei machen zur notwendigen Reform der EU-Institutionen.
Kaczynski erinnert an NS-Besatzung
Der polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski hatte gestern seine Forderung nach einem stärkeren Gewicht für Polen und andere mittlere Staaten der Gemeinschaft mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges begründet. Wörtlich sagte er unter Verweis auf die NS-Herrschaft: "Wir fordern nur, dass uns zurückgegeben wird, was uns weggenommen wurde. Hätte Polen nicht diese Jahre 1939-45 erleben müssen, wären wir heute ein großer Staat mit 66 Millionen Einwohnern."
Zwischen 1939 und 1945 wurden in dem größtenteils von Deutschland besetzten Polen rund 6,5 Millionen Polen getötet. Darunter waren etwa drei Millionen polnische Juden.
Quadratwurzel gegen doppelte Mehrheit
Die polnische Regierung hatte sich für eine Stimmengewichtung nach dem Prinzip der Quadratwurzel eingesetzt. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft setzt dagegen auf die sogenannte "doppelte Mehrheit", die auch in der gescheiterten EU-Verfassung festgelegt worden war.
Derzeit hat Polen fast ebenso viele EU-Stimmrechte wie Deutschland, allerdings nur halb so viele Bürger - rund 40 Millionen Polen stehen gut 80 Millionen Deutsche gegenüber. In Prozent ausgedrückt hat Deutschland 8,4 Prozent der EU-Stimmen, während es Polen auf 7,8 Prozent bringt. Das hatte Warschau im Dezember 2000 beim EU-Gipfel in Nizza durchgesetzt. Mit der neuen Verfassung würde Polen zwar etwas besser gestellt als bisher (8,0 statt 7,8 Prozent der Stimmrechte). Berlin aber würde seinen Einfluss gegenüber Warschau mehr als verdoppeln (mit dann 17,2 Prozent der Stimmrechte). Eine Berechnung nach Quadratwurzel, wie Polen sie fordert, würde Deutschland einen Stimmenanteil von neun, Polen von sechs Prozent bringen. Warschau hätte dann zwar etwas weniger Gewicht als derzeit, aber gegenüber Deutschland deutlich mehr als in der Verfassung geplant.