"Doppelte Mehrheit" erst ab 2014? Merkel geht auf Polen und Briten zu
EU-Ratspräsidentin Merkel gibt alles, um den EU-Gipfel zu retten. Nun hat sie einen neuen Vorschlag für den EU-Vertrag vorgelegt. Die umstrittene "doppelte Mehrheit" solle erst 2014 in Kraft treten, sagte der EU-Parlamentarier Leinen. Damit kommt Merkel den Forderungen Großbritanniens und Polens entgegen. Polen soll zudem mehr Abgeordnete im Parlament bekommen.
EU-Ratspräsidentin und Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt nicht auf. Sie will die EU vor einer tiefen Krise retten - und ist im Streit um die Stimmverteilung einen Schritt auf Großbritannien und Polen zugegangen. Die "doppelte Mehrheit" solle erst 2014 in Kraft treten, sagte der Vorsitzende des Verfassungsausschusses im EU-Parlament, Jo Leinen. Zudem solle Polen mehr Abgeordnete im Parlament bekommen. Dies sei ein "abgesprochener Vorschlag" mit Polen, unterstrich Leinen.
Auf dem Weg zu einer weiteren Einigung soll sich nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP die umstrittene Frage eines neuen Chefs für die EU-Außenpolitik befinden. Demnach soll dieser den Titel eines "Hohen Repräsentanten" erhalten, der aber die gleichen Kompetenzen haben soll wie der in der EU-Verfassung ursprünglich geplante Außenminister, schreibt AFP unter Berufung auf einen EU-Diplomaten.
Findet Merkel die Lösung?
Am Mittag hatte sich die deutsche Delegation verhalten optimistisch geäußert. Es sei eine gewisse Bewegung entstanden, aber keiner wage eine Prognose, hieß es. Alle Delegationen hätten den Eindruck, dass Merkel als EU-Ratspräsidentin in der kommenden Nacht eine Lösung herbeiführen will.
Die Kanzlerin hatte sich am Vormittag erneut mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski getroffen. Polen lehnt eine Stimmengewichtung nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit ab, weil sein Gewicht dadurch geschmälert würde. Statt dessen favorisierte Polen bislang das Modell der Quadratwurzel.
Einfach so weiter machen?
Wie der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker am Vormittag berichtete, hat die polnische Regierung inzwischen einen Kompromiss vorgeschlagen. Sie regte an, das derzeitige Stimmenverhältnis bis zum Jahr 2020 beizubehalten. Ob die Mehrheit der Gipfelteilnehmer dem zustimmen wird, ist nicht auszumachen. Die EU hatte in der gescheiterten Verfassung eine Neugewichtung beschlossen, um nach der Osterweiterung der Gemeinschaft handlungsfähig zu bleiben. Juncker bezeichnete diesen Vorstoß als "sehr schlechte Idee".
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.
Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.
Der Ministerpräsident deutete aber an, die von Warschau propagierte Quadratwurzel-Formel für die Stimmengewichtung im EU-Ministerrat könnte in abgeschwächter Form doch noch Berücksichtigung finden. "Denkbar" wäre , dass der Rat künftig grundsätzlich nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit abstimmt und dann bei Bedarf überprüft, ob der Beschluss auch nach der Quadratwurzel-Formel zu Stande gekommen wäre. Sollte dies nicht der Fall sein, könnte man "die Verhandlungen in der Sache um drei bis vier Monate" verlängern, sagte Juncker.
Viele müssen in den "Beichtstuhl"
Merkel versuchte zugleich, den Widerstand weiterer Staaten gegen einzelne Teile des geplanten Vertrags abzuschwächen. Sie empfing deshalb ebenfalls am Vormittag den britischen Premierminister Tony Blair, den tschechischen Ministerpräsidenten Mirek Topolanek sowie den niederländischen Regierungschef Jan Peter Balkenende.
Ein Sprecher Blairs unterstrich anschließend, es werde keine Einigung geben, "wenn unsere roten Grenzlinien nicht respektiert werden". London will unter anderem verhindern, dass der neue EU-Vertrag britische Hoheitsrechte untergräbt. So ist Großbritannien etwa dagegen, die neue Grundrechtecharta rechtsverbindlich zu machen. Dies wird mit der britischen Tradition des ungeschriebenen Rechts begründet. Unter anderem fürchtet die Regierung, die Aufzählung der Grundrechte könne sie zu einer Volksabstimmung über den EU-Vertrag zwingen. Außerdem will London aus EU-Beschlüssen in den Bereichen Innen- Justiz- und Sozialpolitik aussteigen können.
Gewünscht: Vertrag bis 2009
Merkel will beim Gipfel einen einstimmigen Beschluss über eine Regierungskonferenz erreichen, die den neuen EU-Vertrag bis zum Jahresende ausarbeiten soll. Damit könnte der neue Vertrag theoretisch noch vor den Europawahlen im Sommer 2009 in Kraft treten. Die EU mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten ringt um eine Reform, seitdem die Verfassung vor gut zwei Jahren bei Franzosen und Niederländern durchfiel.