EU-Chefs feilschen um Kompromiss Beichten und Rechnen in Brüssel
Die Formulierung soll beruhigen: Es herrsche keine Katastrophenstimmung auf dem EU-Gipfel in Brüssel, versicherte die deutsche Delegation. Doch trotz zahlreicher Einzelgespräche zeichnet sich bisher keine Lösung im Streit um die künftige Stimmengewichtung im EU-Rat ab.
In mehreren Einzelgesprächen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem EU-Gipfel in Brüssel versucht, den von ihr angestrebten EU-Vertrag zu retten und eine Einigung im Streit um die künftige Stimmenverteilung herbeizuführen. Das Verfahren, auf einem Gipfel Einzelgespräche zu führen, wird im Diplomatenjargon als "Beichtstuhlverfahren" bezeichnet und angewandt, wenn sonst kein Fortschritt zu erreichen ist.
Die deutsche Delegation äußerte sich verhalten optimistisch. Es sei eine gewisse Bewegung entstanden, aber keiner wage eine Prognose, hieß es. Alle Delegationen hätten den Eindruck, dass Merkel als EU-Ratspräsidentin in der kommenden Nacht eine Lösung herbeiführen will.
Die Kanzlerin hatte sich am Vormittag erneut mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski getroffen. Polen lehnt eine Stimmengewichtung nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit ab, weil sein Gewicht dadurch geschmälert würde. Statt dessen favorisierte Polen bislang das Modell der Quadratwurzel.
Einfach so weiter machen?
Wie der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker am Vormittag berichtete, hat die polnische Regierung inzwischen einen Kompromiss vorgeschlagen. Sie regte an, das derzeitige Stimmenverhältnis bis zum Jahr 2020 beizubehalten. Ob die Mehrheit der Gipfelteilnehmer dem zustimmen wird, ist nicht auszumachen. Die EU hatte in der gescheiterten Verfassung eine Neugewichtung beschlossen, um nach der Osterweiterung der Gemeinschaft handlungsfähig zu bleiben. Juncker bezeichnete diesen Vorstoß als "sehr schlechte Idee".
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.
Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.
Der Ministerpräsident deutete aber an, die von Warschau propagierte Quadratwurzel-Formel für die Stimmengewichtung im EU-Ministerrat könnte in abgeschwächter Form doch noch Berücksichtigung finden. "Denkbar" wäre , dass der Rat künftig grundsätzlich nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit abstimmt und dann bei Bedarf überprüft, ob der Beschluss auch nach der Quadratwurzel-Formel zu Stande gekommen wäre. Sollte dies nicht der Fall sein, könnte man "die Verhandlungen in der Sache um drei bis vier Monate" verlängern, sagte Juncker.
Viele müssen in den "Beichtstuhl"
Merkel versuchte zugleich, den Widerstand weiterer Staaten gegen einzelne Teile des geplanten Vertrags abzuschwächen. Sie empfing deshalb ebenfalls am Vormittag den britischen Premierminister Tony Blair, den tschechischen Ministerpräsidenten Mirek Topolanek sowie den niederländischen Regierungschef Jan Peter Balkenende.
Ein Sprecher Blairs unterstrich anschließend, es werde keine Einigung geben, "wenn unsere roten Grenzlinien nicht respektiert werden". London will unter anderem verhindern, dass der neue EU-Vertrag britische Hoheitsrechte untergräbt. So ist Großbritannien etwa dagegen, die neue Grundrechtecharta rechtsverbindlich zu machen. Dies wird mit der britischen Tradition des ungeschriebenen Rechts begründet. Unter anderem fürchtet die Regierung, die Aufzählung der Grundrechte könne sie zu einer Volksabstimmung über den EU-Vertrag zwingen. Außerdem will London aus EU-Beschlüssen in den Bereichen Innen- Justiz- und Sozialpolitik aussteigen können.
Gewünscht: Vertrag bis 2009
Merkel will beim Gipfel einen einstimmigen Beschluss über eine Regierungskonferenz erreichen, die den neuen EU-Vertrag bis zum Jahresende ausarbeiten soll. Damit könnte der neue Vertrag theoretisch noch vor den Europawahlen im Sommer 2009 in Kraft treten. Die EU mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten ringt um eine Reform, seitdem die Verfassung vor gut zwei Jahren bei Franzosen und Niederländern durchfiel.