Krieg in der Ukraine Wie NGOs Kriegsverbrechen dokumentieren
In der Ukraine dokumentieren verschiedene Nicht-Regierungs-Organisationen Kriegsverbrechen. Was können sie im Vergleich zu staatlichen Organisationen leisten - und was nicht?
Von Laura Bisch, tagesschau.de
Während in der Ukraine bereits ein russischer Soldat in einem ersten Kriegsverbrecherprozess zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, laufen die Ermittlungen in Tausenden weiteren mutmaßlichen Fällen weiter - sowohl gegen russische als auch gegen ukrainische Soldaten.
Ermittlungen gibt es dabei von staatlicher Seite, etwa seitens der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine, aber auch durch den Generalbundesanwalt in Deutschland. Beweise trägt auch der UN-Menschenrechtsrat zusammen. Auf der anderen Seite dokumentieren zahlreiche Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) mögliche Kriegsverbrechen. So haben auch Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International (AI) Mitarbeitende entsandt, die vor Ort Hinweise aufnehmen.
Exekutionen, Folter, Verschleppung
Eine von ihnen ist Belkis Wille. Die Ermittlerin beschreibt ihre Arbeit für HRW im Gespräch mit tagesschau.de so: "Wir dokumentieren die komplette Bandbreite an Kriegsverbrechen". Konkret gehe es dabei um Tötungen von Zivilisten, Folter, Vergewaltigungen und Verschleppungen, aber auch um den Einsatz von verbotenen Waffensystemen wie Streumunition und Landminen.
Die Arbeit der NGO beginnt, wenn die Besatzer abgezogen sind. Dann laufe der Prozess für die wenigen Ermittelnden vor Ort so ab: Lokale Institutionen machten NGO-Mitarbeitende auf mögliche Gräueltaten aufmerksam, erzählt Wille. Oder man erfahre über Medien oder Erzählungen von mutmaßlichen Taten. Dann beginne die Suche nach Hinweisen und schließlich Beweisen:
Wir sammeln Aussagen von Opfern und Zeugen, identifizieren sie. Wir suchen Geflüchtete, die aus einem besetzten Gebiet geflohen sind. Wenn wir die Aussagen haben, versuchen wir mehr Aussagen zu bekommen - von Menschen, die unabhängig voneinander sind.
Russen generieren wenig Tätermaterial
Bei der Suche nach Tätern und Verantwortlichen ist der Typ der eingesetzten Waffen wichtig. Die Art der Zerstörung oder herumliegende Patronenhülsen oder Waffenteile verrate oftmals, um welche Art von Einsatzgruppe es sich gehandelt haben könne, so Wille.
Lasse sich dann noch herausfinden, welche Einheiten wann wo stationiert waren, könne man den Kreis der Verdächtigen beträchtlich eingrenzen. Anschließend versuche man, die gesammelten Informationen mit Open-Source-Quellen wie Satellitenbildern, Fotos und Videos aus dem Internet abzugleichen und diese zu verifizieren.
Während es aus dem Syrienkrieg viele Tätervideos von Hinrichtungen und anderen Kriegsverbrechen gebe, seien die russischen Truppen sich der Tatsache "sehr bewusst", dass diese Materialien für eine spätere Strafverfolgung wichtig sind, so Wille. Russische Soldaten, die in die Ukraine geschickt wurden, hätten daher ihre Smartphones abgeben müssen.
Spurensuche: Belkis Wille von Human Rights Watch dokumentiert die Zerstörungen in der Ukraine.
Wie NGOs an ihre Grenzen kommen
Staatliche Institutionen seien zwar im Vergleich meist besser untereinander und mit Geheimdiensten vernetzt - dadurch hätten sie Zugriff auf Flugdaten, Funksprüche und detaillierte Satellitenbilder und Drohnenbilder, die die NGO nur eingeschränkt nutzen können, so Wille.
Als kleine Organisation mit gerade mal rund 20 Mitarbeitenden für die Ukraine habe man allerdings eine gewisse Agilität und Flexibilität und könne schnell vor Ort sein, wenn ein Gebiet zurückerobert werde oder die Besatzer weiterzögen, erklärt Wille. Selbst die Ermittelnden des ukrainischen Staates seien nicht so handlungsfähig, da ihnen oft die Schutzutensilien und Versicherungen dazu fehlten.
Außerdem habe die Organisation bessere Drähte zu den Behörden vor Ort als die staatlichen Pendants: Mit denen werde Rücksprache gehalten, bevor Mitarbeitende in bestimmte Gebiete geschickt werden, so Wille. Und noch einen entscheidenden Vorteil sieht sie bei den NGO: Viele Ukrainer seien bereit, mit den NGO zu sprechen. Gegenüber Mitarbeitenden von staatlichen Organisationen sei das oft nicht so, da sich die Menschen lieber Organisationen anvertrauen, die keiner Seite im Krieg verpflichtet sind.
"Wir ermitteln gegen alle"
Unabhängigkeit bedeutet auch, gegen alle Kriegsparteien zu ermitteln. Wille sagt, sie habe beobachtet, dass staatliche Stellen - auch aus dem Ausland - mehr Interesse daran hätten, gegen russische Soldaten zu ermitteln als gegen ukrainische. Im Verhältnis beobachte Human Rights Watch zwar bisher mehr Kriegsverbrechen von russischer Seite - aber auch Fälle von ukrainischen Kämpfern gebe es. Man ermittle gegen alle.
Staaten ermitteln oft ergebnislos gegen sich selbst
In der Ukraine arbeitet auch er: Brian Castner, Waffenspezialist bei Amnesty International. Auch seine Organisation wünscht sich zwar Gerechtigkeit vor Gericht - ist sich aber im Klaren darüber, dass viele Täter von Kriegsverbrechen womöglich nie verurteilt werden. "Es ist sehr selten, dass wir den Soldaten finden, der es getan hat", sagt Castner im Gespräch mit tagesschau.de.
Wenn man aber beweisen könne, aus welcher Einheit das Verbrechen kam, gebe es noch das Prinzip der "Kommandeurs-Verantwortlichkeit". Heißt: Wenn man nachweisen kann, dass der Kommandeur der Einheit einen Befehl gab, ein Kriegsverbrechen zu begehen oder von diesem wusste und keine Konsequenzen zog, dann könne man ihn dafür zur Verantwortung ziehen, erklärt Castner.
Genaue Dokumentation: Brian Castner, Waffenexperte von Amnesty International, untersucht in der Ukraine zurückgelassene Waffenteile.
Die Ermittlungen in Sachen Kriegsverbrechen durch staatliche Organisationen sieht Castner kritisch:
Wir haben lange Luftschläge der USA an Orten wie Somalia und Afghanistan untersucht. Wenn die USA gegen sich selbst ermitteln, dann glauben sie selten, dass sie etwas falsch gemacht haben. Wenn wir dagegen ermitteln - und dabei die gleichen Informationen auswerten - kommen wir manchmal zu einem ganz anderen Ergebnis.
Und so komme es auch vor, sagt Castner, dass staatliche Institutionen ihre Ressourcen für solche Ermittlungen rar machen. Er macht ein Beispiel: "Das US-Militär ist eine enorme Organisation - mit Hunderten Milliarden Dollar an Budget. Und dennoch sagen sie, sie hätten nicht die Leute, um das zu tun, was wir tun."
Ukrainische NGOs tun sich zusammen
Tetiana Pechonchyk leitet das "Human Rights Centre ZMINA" in Kiew. Ihre Organisation dokumentiert schon seit der Annexion der Halbinsel Krim vor acht Jahren Kriegsverbrechen. Nach dem Angriff vom 24. Februar habe man sich mit 26 anderen NGO zusammengetan und eine Koalition gebildet. Der Titel: "5 am" - weil um 5 Uhr nachts die Explosionen begannen und den Beginn des russischen Angriffskrieges markierten. Innerhalb der Koalition koordiniere man Einsätze und Aufgaben, erzählt Pechonchyk im Interview. Man teile aber auch die erhobenen Daten.
Gefragte Expertin: ZMINA-Leiterin Tetiana Pechonchyk in einer Live-Schalte.
"Russische Regierung vor Gericht bekommen"
Pechonchyk geht es dabei auch darum, die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen vor Gericht zu bekommen - für sie: die russische Regierung. Denn sie sei es, die diese Aggression gestartet und befohlen habe.
Da sich Russland von dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zurückgezogen hat, schätzen Experten eine Verurteilung der russischen Führung als unwahrscheinlich ein. Denn der ICC ist kein Weltgerichtshof - er kann lediglich eine Einschätzung für die nationale Gerichtsbarkeit geben.