Alltag in Russland "Jetzt wird es langsam unangenehm"
So zu tun, als wäre alles ganz normal, fällt den Menschen in Moskau zunehmend schwer: Das Leben wird teurer, Drohnenangriffe auf die russische Hauptstadt häufen sich. Einige trauen sich, ihr Unbehagen auszusprechen.
Wieder einmal zerreißt eine Explosion die frühmorgendliche Stille im Zentrum der russischen Hauptstadt. Wieder trifft eine Drohne Moskau City, das prestigeträchtige Geschäftsviertel, in dem sich auch einige Ministerien befinden. Auch dieses Mal bleibt es bei Sachschäden, die in Windeseile repariert werden. Die Behörden tun alles, um die Drohnenangriffe schnell wieder vergessen zu machen. Die staatlichen Medien sind gehalten, auf Berichterstattung zu verzichten.
Und doch: Die nächtlichen Einschläge, die vorübergehenden Schließungen der Flughäfen in Moskau, hinterlassen bei Anwohnern erste Spuren. "Das ist schon besorgniserregend", sagt eine junge Frau. "Es schien immer so weit weg. Und jetzt ist es hier - in Moskau."
"Früher hab ich immer allen erzählt, dass es die sicherste Stadt ist", sagt ein junger Mann dazu. "Und jetzt wird es langsam unangenehm."
Westliche Produkte fehlen kaum jemandem
So zu tun, als wäre alles ganz normal, fällt auch in der Hauptstadt zunehmend schwerer: Der Rubel fällt, die Inflation steigt. Das Leben wird spürbar teurer. Dass westliche Produkte im Supermarkt nach und nach durch russische ersetzt werden, kümmert nur wenige. Dass es aber immer schwieriger wird, Ersatzteile für westliche Geräte, Maschinen und Autos zu bekommen, ist ein Problem.
Die Sanktionen im Technologiesektor wirken sich auf die Infrastruktur aus: auf Verkehrsbetriebe, die Luft- und Raumfahrt, die Öl- und Gasförderbranche. Der Staat verspricht Abhilfe in Form massiver Investitionen. Die Finanzlage, betonte Präsident Wladimir Putin, gebe dies her: "Die aktuelle Haushaltslage ist insgesamt stabil und stellt keine Risiken für die makroökonomische Stabilität dar."
Die Rüstungsindustrie floriert
Auch wenn vieles besser läuft als vom Westen erwartet, warnt der frühere stellvertretende Energieminister Wladimir Milow in seinem YouTube-Kanal davor, die wenigen öffentlich zugänglichen Zahlen überzubewerten. Ein Bruttoinlandsprodukt zu Friedenszeiten sei nun einmal nicht vergleichbar mit einem BIP zu Kriegszeiten: "In einer normalen Situation werden die Gewinne in neue Projekte investiert. Gehälter und Löhne fließen in die Taschen der Bürger, die dann in den Läden etwas kaufen und dadurch Nachfrage für Waren und Dienstleistungen schaffen."
In Kriegszeiten aber werde Geld in die Rüstungsindustrie gesteckt - und aus den Geschossen und Raketen ergebe sich, wenn sie ihren zerstörerischen Zweck erfüllt haben, "keine weitere nützliche wirtschaftliche Aktivität".
Opposition spricht von Totalitarismus
Nicht ohne Wirkung bleibt auch die weitgehende Abkopplung Russlands vom internationalen Zahlungssystem SWIFT. Weshalb Putin bei seinen verbliebenen Partnern für eine Abkehr des Handels vom Dollar wirbt - auch auf dem BRICS-Gipfel in Südafrika, bei dem er sich per Video zuschalten ließ.
Der Internationale Strafgerichtshof hatte einen Haftbefehl gegen ihn erlassen wegen Kriegsverbrechen, für die Putin persönlich mitverantwortlich gemacht wird. Im eigenen Land wird ihm von Menschenrechtlern, Oppositionellen und Regimekritikern Willkürherrschaft vorgeworfen.
Russland sei zu einem totalitären Staat geworden. Ein Staat, der seinem Volk die Zukunft raube - so drückte sich Oppositionspolitiker Ilja Jaschin aus, der sich direkt an Putin wandte, bevor er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. "An den Mann, der für dieses Massaker verantwortlich ist, der das Gesetz zur 'Militärzensur' unterzeichnet hat und nach dessen Willen ich im Gefängnis bin: Wladimir Wladimirowitsch!", sagte er. "Wenn Sie sich die Folgen dieses ungeheuerlichen Krieges ansehen, wissen Sie wahrscheinlich bereits selbst, was für einen schwerwiegenden Fehler Sie am 24. Februar begangen haben."