Europäisches Stromnetz Wenn Uhren plötzlich anders ticken
Ganze sechs Minuten sollen Backofenuhren oder Radiowecker nachgehen. Und zwar, weil gut zwei Flugstunden von hier im Stromnetz etwas schief läuft. Die Gründe dafür sind auch politisch.
Weil es irgendwo zwischen Serbien und dem Kosovo im Stromnetz knirscht, kommen Kinder bei uns zu spät zur Schule - jedenfalls, wenn sie sich an der Backofenuhr in der Küche orientieren. Das klingt absurd, überrascht einen Techniker wie Jürgen Ripperger vom Verband für Elektrotechnik und Elektronik aber nicht wirklich.
Viele elektronische Uhren nutzen die Netzfrequenz für die Zeitmessung. Wenn es also Schwankungen im europäischen Stromnetz gibt, gehen die Uhren nicht mehr genau. "Das kommt immer wieder mal vor, wird aber zeitnah ausgeglichen, meist bevor es die Verbraucher merken", erklärt Ripperger. "Auch dieses Mal erfolgte eine kontrollierte Anpassung der Regelleistung, obwohl diese zusätzliche Stromentnahme in der kalten Jahreszeit größere Probleme aufwirft."
Eigentlich greifen diese Mechanismen fast automatisch und trotzdem kann es zu kleinen Verzögerungen kommen. Die reichen aus, um die Uhren durcheinander zu bringen.
In den letzten Tagen ist es vielen zum ersten Mal aufgefallen, doch das Problem besteht seit Mitte Januar: Der Radiowecker oder die Herduhr zeigen eine andere Zeit als die Armband- oder die Handyuhr. Bis zu sechs Minuten Unterschied - das kann ärgerlich sein, wenn man pünktlich Bus oder Bahn erreichen möchte.
Auch ein politisches Problem
Dass das kein vereinzeltes Problem ist, sondern europaweit auftritt, hat der Verbund der europäischen Stromnetzbetreiber "Entso-E" in Brüssel bestätigt. Politische Auseinandersetzungen zwischen Serbien und dem Kosovo hätten dazu geführt, dass dort nicht die sonst übliche Strommenge eingespeist wurde. 113 Gigawattstunden Strom fehlen. "Entso-E" ruft jetzt nicht nur nach einer technischen, sondern vor allem nach einer politischen Lösung. "Wir fordern die europäischen und nationalen Regierungen und politischen Entscheidungsträger auf, rasch zu handeln", erklärte der Verbund.
25 Länder haben auf dem europäischen Kontinent ihre Stromnetze miteinander verbunden. Jedes verpflichtet sich, eine bestimmte Menge einzuspeisen. "Wenn man sich daran hält, dann ist alles stabil", sagt Ripperger. Stabil heißt, dass die Nennfrequenz europaweit auf 50 Hertz gehalten werden muss. Kleinere Abweichungen treten immer wieder auf, toleriert werden sie bis zu einer Größe von einem Prozent (also im Bereich von 49,5 Hz bis 50,5 Hz).
Die kritische Marke sind 47,5 Hertz. Würde sie unterschritten, müssten alle Kraftwerke automatisch abgeschaltet werden - dann würden in Europa die Lichter ausgehen.
Noch Wochen bis zum Normalbetrieb
Im Regelfall werden Schwankungen aber sehr schnell ausgeglichen. "Im Sommer hätten wir das zum Beispiel auch durch Sonnenenergie mit abgefedert", so Ripperger. Im Winter, wenn außerdem auch noch die Verbrauchsmengen viel größer sind, müssen andere Kraftwerksreserven aktiviert werden. Deswegen sind die Spannungsabsacker in ganz Europa spürbar.
Noch in dieser Woche sollen wieder Strommengen in normaler Höhe eingespeist werden. Wann die fehlenden 113 Gigawattstunden nachgeliefert werden, kann "Entso-E" noch nicht sagen. Es könne ein paar Wochen dauern, bis das System wieder normal laufe. Und möglicherweise müssen die Uhren dann wieder neu gestellt werden - dann aber nicht vor, sondern zurück. Denn eine leicht erhöhte Frequenz lässt sie schneller laufen.