Ukrainischer Geheimdienstchef Budanow rechnet mit russischer Offensive im Frühjahr
Der Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, Budanow, bezeichnet die Lage an der Front als "schwierig, aber unter Kontrolle". Im ARD-Interview sagt er, er rechne für Ende Mai mit einer weiteren russischen Offensive.
Das Büro von Kyrylo Budanow ist so ungewöhnlich wie der 38-Jährige selbst. Angelehnt an ein Aquarium mit Fröschen, steht ein Porträt des ukrainischen Präsidenten. Wolodymyr Selenskyj war es auch, der ihn 2020 zum Chef des Militärgeheimdienstes HUR ernannte. Neben dem Schreibtisch liegen Schutzausrüstung und Waffen. Denn Budanow nimmt persönlich an Kampfeinsätzen teil.
Sein Job besteht unter anderem darin zu wissen, welchen Schritt Russland als Nächstes plant. "Wir erwarten im späten Frühjahr, Anfang Sommer eine Intensivierung der russischen Offensivaktionen. Vor allem auf dem Gebiet des Donbass", sagt Budanow im ARD-Exklusiv-Interview in Kiew. "Sie werden etwas näher an Tschasiw Jar vordrängen. Sie werden sich in Richtung der Stadt Pokrowsk bewegen, in die strategische Richtung Pokrowsk." Die Stadt liegt etwa 70 Kilometer nordwestlich von Donezk im Osten der Ukraine.
Bis zum Beginn dieser russischen Offensive rechne er nicht mit starken Veränderungen an der Front. "Die Lage ist ziemlich schwierig, aber sie ist unter Kontrolle." Im Widerspruch zu den Einschätzungen verschiedener Militärexperten hält Budanow in diesem Jahr auch eine ukrainische Offensive für möglich. Mehr wolle er dazu nicht sagen, die Verantwortung dafür liege im Aufgabenbereich des Generalstabs.
Tschechische Initiative: Munition noch nicht an der Front
Aktuell benötige die Ukraine besonders dringend "zusätzliche Mengen an Artilleriesystemen, zusätzliche Mengen an Munition", sagt Budanow. Auf Initiative Tschechiens haben sich verschiedene EU-Staaten, darunter Deutschland, zusammengetan, um auf dem Weltmarkt Hunderttausende Artilleriegranaten einzukaufen. Auf Nachfrage, ob dieser Munitionsnachschub an der Front bereits zu spüren sei, sagt Budanow: "Das sehe ich noch nicht."
Ohne dauerhafte Unterstützung werde es für die Ukraine "katastrophal schwierig", sagt Budanow. Er rechne noch in diesem Jahr mit einem deutlichen Aufschwung der Rüstungsindustrie in Europa. Budanow traue der EU zu, die ausbleibenden US-Hilfen auszugleichen.
"Taurus würde unser Leben sicherlich einfacher machen"
Der HUR-Direktor bekräftigt zudem ukrainische Hoffnungen auf Lieferungen von Marschflugkörpern des Typs "Taurus" aus Deutschland. "Der Taurus würde unser Leben sicherlich einfacher machen", sagt Budanow. "Um Kommandozentralen zu treffen, um einige sehr wichtige Ziele zu treffen, ist es eine ausgezeichnete Waffe."
Immer wieder stellt Budanow mit eiserner Miene Gegenfragen. Ein Stilmittel, das er gerne in Interviews einsetzt, um auszuweichen. Auf die Frage, ob sich die Ukraine auf Deutschland verlassen könne, antwortet er: "Können wir uns auf Ihr Land verlassen? Ich hoffe es."
Krim-Brücke bleibt Ziel
Unter Beteiligung von Budanow konnte die Ukraine in den vergangenen Monaten Ölplattformen im Schwarzen Meer zurückerobern und mit systematischen Angriffen die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim erfolgreich zurückdrängen. Diesen Operationen hat es die Ukraine zu verdanken, dass sie wieder Getreide über das Schwarze Meer exportieren kann.
Um den russischen Nachschub zu unterbrechen, bleibe auch die Brücke von Kertsch ein wichtiges Ziel: "Die Brücke wird schwer bewacht und verteidigt. Aber alle arbeiten an diesem Thema."
Die Brücke von Kertsch verbindet das russische Festland mit der besetzten ukrainischen Halbinsel Krim. Für Kiew bleibt die Brücke ein strategisches Ziel.
Unterstützung für Papst-Vorschlag
Budanow, der auf ukrainischer Seite am Austausch von Kriegsgefangenen beteiligt ist, begrüßt die Oster-Initiative von Papst Franziskus, alle russischen Gefangenen für alle ukrainischen auszutauschen. "Ich unterstütze das voll und ganz. Lasst es uns tun. Es bleibt nur eine Kleinigkeit: Russland zu überreden." Im Moment erkenne er auf russischer Seite kein Interesse an einer solchen Aktion.
Budanow berichtet zudem, dass nicht mehr die Türkei der zentrale Vermittler beim Austausch von Kriegsgefangenen sei, sondern die Vereinigten Arabischen Emirate.
Beteiligung der Ukraine an Anschlägen dementiert
Dass Russland die Ukraine ohne irgendwelche Beweise mit dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall bei Moskau in Verbindung bringt, bezeichnet Budanow als "absolut absurde Anschuldigung", bei der es darum gehe, den Hass auf die Ukraine im eigenen Land noch weiter zu festigen.
Die Zahl der Menschen in Russland, die den Krieg offen unterstützen, schätzt er auf über 70 Prozent. Für die Ukraine mache das keinen Unterschied mehr.
Eine Beteiligung der Ukraine an der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines dementiert der HUR-Chef ebenfalls: "Ich bin mir mehr als sicher, dass keiner der Offiziellen in der Ukraine irgendetwas damit zu tun haben könnte, nicht einmal physisch. Und ich weiß mit Sicherheit, dass solche Befehle nicht an irgendeinen Dienst gegeben wurden."
Auf Fragen zu weiteren Perspektiven des Krieges wollte Budanow explizit keine Antwort geben. Zunächst müsse die Ukraine mit den Herausforderungen im Juni zurechtkommen.