Ein ukrainischer Soldat in einem Schützengraben bei Saporischschja.
interview

Militärexperte zu Offensive "Wie viele Reserven hat die Ukraine noch?"

Stand: 06.09.2023 14:37 Uhr

Die Ukraine werde die nächsten Verteidigungsstellungen durchbrechen, meint Militärexperte Nico Lange. Doch ob sie dann strategisch Gebiet einnehmen und die russische Versorgung durchtrennen kann, hänge von den verbliebenen Reserven ab.

NDR: Bei der Gegenoffensive in der Ukraine zeigen sich mittlerweile Erfolge, vor allem im Süden der Ukraine. Die ukrainischen Streitkräfte haben es geschafft, die Ortschaft Robotyne einzunehmen und von dort aus weiter vorzustoßen. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?

Nico Lange: Das ist eine sehr wichtige und signifikante Entwicklung. In den ersten acht Wochen der Gegenoffensive hatte die Ukraine große Schwierigkeiten, weil die russische Verteidigungsstrategie sehr wirkungsvoll war.

Seit vier Wochen ist es aber so, dass die Russen trotz früher Gegenangriffe, trotz Minen und Verteidigungsstellungen die wichtigen Wegmarken verloren haben; und dass die Ukraine jetzt die erste Verteidigungslinie durchbrochen hat und zumindest in Teilen auch schon die zweite - vor allen Dingen in Richtung Werbowe, also östlich von Robotyne.

Die Ukraine hat durch diese Durchbrüche jetzt mehr Möglichkeiten. Sie kann weiter nach Osten gehen, sie kann weiter nach Süden gehen. Das ist für Russland natürlich ein Dilemma, weil es die Frage aufwirft: Wo bringt man jetzt die Verstärkung ein?

Nico Lange
Zur Person

Nico Lange ist Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Er lebte und arbeitete zuvor lange in Russland und der Ukraine und spricht fließend Russisch und Ukrainisch. Lange lehrt aktuell am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam. 

Es deutet vieles darauf hin, dass die zweite und die dritte Verteidigungslinien nicht so stark besetzt sind und dass Russland auch nicht die Zeit hat, die Verteidigungsstellungen auszubauen und zu besetzen, wie das bei der ersten Linie der Fall war.

Wenn Sie das Territorium im Süden genau betrachten, dann sehen Sie, dass bei den 120, 110 Kilometern von der ukrainischen Frontlinie bis zur Küste des Asowschen Meeres etwa die ersten 20, vielleicht 25 Kilometer mit Verteidigungsstellungen durchsetzt sind. Danach kommt offenes Gelände.

Wenn die Ukraine es also schafft, dort durchzubrechen, dann könnte es zu einem Bewegungskrieg kommen. Die entscheidende Frage wird dann sein: Wie viele Reserven hat die Ukraine dann noch, um aus diesen Durchbrüchen etwas zu machen?

Karte Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete zum Stand am 6. September 2023.

Ähnliche Vorgehensweise wie in Cherson?

NDR: Es ist ja häufig für die ukrainischen Truppen als Ziel definiert worden, über Melitopol bis zum Asowschen Meer vorzustoßen und den Russen so den Landweg zur Krim abzuschneiden. Sie sagen, das sei eigentlich gar nicht nötig. Warum nicht?

Lange: Die Ukraine hat keinem gesagt, was das Ziel dieser Gegenoffensive ist. Die angeblichen Ziele der Rückeroberung von Tokmak oder Melitopol, Berdjansk oder Mariupol kommen aus Projektionen von Beobachtern. Aussagen der Ukraine, dass das das Ziel sei, kenne ich gar nicht.

Wenn man sich die Lage im Süden ansieht, dann stellt man fest, dass die Eisenbahnlogistik und die Straßenlogistik für die Russen ganz entscheidend ist, sowohl zwischen dem russischen Festland und der Krim als auch für den Südkorridor. 

Möglicherweise ist jetzt der entscheidende Faktor die Frage: Kann die Ukraine so weit vordringen im Süden, dass sie die Lebensadern der russischen Versorgung zumindest unter permanentes Präzisionsfeuer nehmen kann oder sie gar ganz durchtrennen kann?

Und kann die Ukraine die Krim-Brücken weiter beschädigen oder ganz durchtrennen, weil dann die Lage auf der Krim und im Süden prekär wird und Russland möglicherweise gezwungen wäre, Städte oder ganze Gebiete dort aufzugeben, weil die Truppen nicht mehr versorgt werden können?

Das scheint mir aussichtsreicher zu sein, als zu sagen: Es gibt einen Sturm auf Tokmak oder Melitopol. Wir sehen ja in Bachmut, wie lange ein Kampf um bestimmte Ortschaften dauern kann und was für Zerstörungen das mit sich bringt. Cherson hat die Ukraine zurückerobert, ohne Cherson zu stürmen. Möglicherweise sehen wir hier eine ähnliche Vorgehensweise.

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

"Ukraine wird weitere Mobilmachung brauchen"

NDR: Wir wissen nicht, wie viele ukrainische Soldaten bereits verwundet wurden oder gefallen sind. Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady macht sich Sorgen um die Zahl der noch verbliebenen ukrainischen Soldaten. Teilen Sie diese Sorge?

Lange: Die Sorge ist berechtigt. Die Ukraine hält zwar geheim, welche Reserven sie noch hat, aber für die Nutzung eines möglichen Durchbruchs und das Vorstoßen in die Tiefe ist das der entscheidende Faktor.

Man weiß, dass insbesondere der Beginn von Offensiven in einem offenen Gelände, wo man kilometerweit sehen kann - gegen einen Gegner, der stark ist bei Artillerie und Luftüberlegenheit hat - extrem verlustreich ist, weil man gezwungen ist, wie auf dem Präsentierteller anzugreifen.

Die Ukraine ist sehr gut darin - viel besser als Russland -, ihren Soldaten das Leben zu retten. Aber gerade bei dieser Offensive in diesen Minenfeldern ist es so, dass die Soldaten zwar gerettet werden können, aber dass sie häufig leider Gliedmaßen verlieren, dass sie starke Verbrennungen oder ähnliche Verletzungen haben. Und viele sind auch sehr stark traumatisiert.

Sie können nicht aufs Schlachtfeld zurückkehren. Die Ukraine wird deshalb auch eine weitere Mobilmachung brauchen, die ja auch schon angelaufen ist.

"NATO-Streitkräfte haben viel gelernt"

NDR: Haben Sie den Eindruck, dass die NATO-Staaten die ukrainischen Soldaten ausreichend für diese Gegenoffensive trainiert haben? Oder passt das, was jetzt die NATO lehrt und gelehrt hat, gar nicht zu diesem Krieg in der Ukraine?

Lange: Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen nicht, wie man das an der Führungsakademie lernt oder wie es in der Bundeswehr-Taschenkarte steht. Sie verlassen sich sehr auf ihre eigene Kriegserfahrung seit 2014. Das ist aus taktischer Sicht manchmal gut, manchmal muss man das auch kritisch sehen. Insbesondere, wenn man immer wieder Vorstöße von sehr kleinen Formationen, noch dazu ohne Luftunterstützung, gegen den artilleriestarken Gegner sieht.

Wo die Ukraine weiter Unterstützung brauchen wird - das ist die Operationsführung ab Brigadeebene aufwärts. Bei größeren Formationen, wenn man sehr viel kommunizieren und sehr viele Elemente zusammenbringen muss, scheint es Schwierigkeiten zu geben. Das ist gerade jetzt ein Problem, wenn es darum geht, in einem riesigen Gelände auf breiter Front anzugreifen.

Die NATO-Streitkräfte haben viel gelernt von den Ukrainern. Es gibt ganz viele neue Elemente in diesem Krieg, wo die Ukrainer eher uns etwas beibringen können und wir auch von ihnen lernen sollten - wo wir ihnen aber leider nicht helfen können.

Der Umgang mit überall verfügbaren, permanent präsenten massenweisen Drohnen aller Art, das Fortbewegen unter ständiger Drohnenbeobachtung, der Einsatz von Drohnen für alle möglichen Zwecke - damit haben wir überhaupt keine Erfahrung, schon gar nicht im Gefecht. Wir haben diese Drohnen auch gar nicht in unserer Ausstattung.

Was sich in den kommenden Wochen entscheidet

NDR: Der US-Militärexperte Michael Kofman schreibt, in den nächsten Wochen könne sich viel entscheiden. Was kann sich Ihrer Ansicht nach entscheiden?

Lange: Die Ukraine wird die schon erwähnten Verteidigungsstellungen durchbrechen - das ist sehr wahrscheinlich. Die entscheidende erste Frage ist: Wie viele Reserven hat die Ukraine dann noch, um dann in einem Bewegungskrieg aus diesen Durchbrüchen etwas zu machen, in die Tiefe vorzustoßen und strategisch Gebiet wieder unter ihre Kontrolle zu bringen?

Ein großes Problem würde entstehen, wenn der Ukraine im offenen Gelände die Reserven ausgehen. Dann kämen die Streitkräfte der Ukraine in eine sehr unbequeme Lage. Sie müssen also bis an wichtige Punkte vordringen können, wenn sie die Verteidigungsstellungen durchbrochen haben. Ob das gelingt, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten entscheiden.

Was sich ebenfalls entscheiden wird, ist die zweite Frage: Wie weit wird die russische Logistik, die ja sehr stark von der Eisenbahn, aber auch zum Beispiel von privaten Transportfirmen mit Sattelschleppern abhängig ist, eingeschränkt sein? Und was heißt das dann für die Durchhaltefähigkeit der russischen Truppen im Süden und auch auf der Krim?

Die ukrainischen Vorstöße könnten dazu führen, dass die Russen logistisch in eine unhaltbare Position kommen. Das würde die generelle militärische Position und die politische Verhandlungsposition der Ukraine stärken, insbesondere wenn die Krim betroffen ist.

Die dritte Entscheidung, die in den nächsten Wochen und Monaten eine hohe Bedeutung haben wird, ist die, ob Russland in der Lage sein wird, an anderer Stelle in der Ukraine zu Entlastungsangriffen oder zu neuen Angriffen anzutreten, möglicherweise im Norden bei Kupjansk. Solche Angriffe werden seit einiger Zeit propagandistisch behauptet, sind aber bisher nicht nachzuweisen. Das könnte das Ressourcenmanagement der Ukraine zwischen Süden und Osten in die Bredouille bringen.

Diese drei Parameter sind entscheidend für den Kriegsverlauf der kommenden Wochen und Monate.

Das Gespräch führte Anna Engelke, NDR. Für die schriftliche Fassung wurde es redigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk in der Sendung "Kulturfragen" am 16. April 2023 um 17:05 Uhr.