Russische Offensive Ukraine ohne Zugang zum Asowschen Meer?
Der Zugang zum Asowschen Meer gilt als strategisch wichtig: Russland hat die Ukraine jetzt laut eigenen Angaben davon abgeschnitten. In der Hauptstadt Kiew wurde der Fernsehturm offenbar bei einem russischen Angriff getroffen.
Die russischen Streitkräfte haben nach Angaben aus Moskau ein wichtiges Küstengebiet im Südosten der Ukraine eingenommen. Die Armee habe "die Kontrolle über die Regionen der Ukraine entlang der Küste des Asowschen Meeres übernommen", erklärte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow.
Streitkräfte, die aus der 2014 von Russland annektierten Krim-Halbinsel die Küste entlang vorrückten, seien bis zu den Truppen der pro-russischen Separatisten aus Donezk vorgestoßen. Damit hätte Russland eine Landverbindung zwischen seinem Kernland und der Halbinsel Krim geschaffen. Die Angaben waren nicht unmittelbar überprüfbar. Die ukrainische Armee hatte noch kurz zuvor vermeldet, sie habe diesen Truppenzusammenschluss verhindern können.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
In der Küstenregion am Asowschen Meer liegen mehrere wichtige Großstädte, darunter die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol. Nach einer Offensive war dort am Morgen die Stromversorgung ausgefallen. Es wurde heftiger Beschuss der Stadt gemeldet. Dabei seien Infrastruktur sowie Schulen und Häuser zerstört worden, sagte Bürgermeister Wadym Boitschenko. "Es gibt viele Verletzte. Es wurden Frauen und Kinder getötet."
Eduard Bassurin, Kommandeur der separatistischen Kräfte aus Donezk, erklärte, sein Ziel sei es, Mariupol "vollständig" einzukreisen. Die Stadt Wolnowacha, eine Autostunde nördlich von Mariupol, sei am Dienstag weitgehend "zerstört" worden, sagte der ukrainische Gouverneur der Region Donezk, Pawlo Kirilenko.
Am Montag hatten russische Streitkräfte die Hafenstadt Berdjansk eingenommen, die etwa in der Mitte des ukrainischen Küstenstreifens liegt. Die Nachrichtenagentur RIA meldete ergänzend, die pro-russischen Separatisten in der Provinz Donezk in der Ost-Ukraine hätten die Reihen zu den russischen Streitkräften in dem Gebiet geschlossen.
Bassurin hatte die Bevölkerung Mariupols zum Verlassen der Stadt aufgerufen. Hierfür wollte man nach eigenen Angaben zwei "humanitäre Korridore" errichten.
Die Menschen sollten bis Mittwoch die umkämpfte Stadt verlassen können: "Wir garantieren die Sicherheit auf Abschnitten der Fernstraße E58 sowohl in Richtung der Region Saporischschja als auch in Richtung des Territoriums der Russischen Föderation", so Bassurin weiter. Russische Truppen sollten dabei helfen.
Die russische Armee rückte zuvor von zwei Seiten entlang der Küste am Asowschen Meer vor - von der annektierten Halbinsel Krim und von der russischen Grenze aus. Die Einnahme von Mariupol, einer strategisch wichtigen Hafenstadt mit einer halben Million Einwohnern, und Wolnowacha würde nun einen Zusammenschluss der russischen Truppen erleichtern.
Fernsehturm von Kiew getroffen
Russland kündigte auch gezielte Angriffe auf die Informationsinfrastruktur des ukrainischen Geheimdienstes an. Um "Informationsangriffe" gegen Russland zu zerschlagen, würden unter anderem "technologische Objekte des SBU (...) in Kiew mit hochpräzisen Waffen getroffen werden", teilte das Verteidigungsministerium in Moskau der Agentur Interfax zufolge mit. Ziel der neuen Angriffe sei auch das 72. Zentrum für so bezeichnete informations-psychologische Operationen in Browary östlich von Kiew. Die Bevölkerung in Kiew, die in der Nähe der genannten Einrichtungen lebe, wurde aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen.
Nach ukrainischen Angaben wurde auch der Fernsehturm Kiews durch einen russischen Angriff getroffen. Die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen sei dadurch "für eine gewisse Zeit" unterbrochen, teilte das ukrainische Innenministerium mit. Bei dem Angriff seien fünf Menschen getötet worden. Fünf weitere Menschen seien bei dem Angriff am Dienstag verletzt worden, teilte der Katastrophenschutz mit.
Die Struktur des im Zentrum von Kiew stehenden Fernsehturms sei intakt geblieben, so das Innenministerium. Über dem Stadtviertel sei Rauch aufgestiegen und Ausrüstung für den Fernsehturm sei beschädigt worden. Auch das ukrainische Parlament berichtete von dem Angriff und postete ein Foto, das den in Rauchschwaden gehüllten Turm zeigte. Örtlichen Medienberichten zufolge gab es mehrere Explosionen. Ukrainische Fernsehsender hätten kurz darauf die Sendungen eingestellt.
Bürgermeister Vitali Klitschko bezeichnete die Lage als "bedrohlich". "Der Feind will das Herz unseres Landes erobern. Aber wir werden kämpfen und Kiew nicht aufgeben", schrieb er im Nachrichtenkanal Telegram. Er warnte zugleich vor Panik und Falschinformationen.
Ein Satellitenbild des US-Firma Maxar
Zuvor waren Befürchtungen gewachsen, dass die russischen Angriffe auf die Hauptstadt Kiew vor einer neuen Eskalation stehen könnten. Am Montag aufgenommene Satellitenbilder zeigten einen 60 Kilometer langen russischen Militärkonvoi nordwestlich der Hauptstadt.
Angesichts der unsicheren Lage setzte Präsident Selenskyj für die Hauptstadt einen Militärkommandanten ein. "Vitali Klitschko bleibt Bürgermeister von Kiew, er wird seinen Verantwortungsbereich haben", sagte das Staatsoberhaupt in einer Videobotschaft. Der 55-jährige General Mykola Schyrnow habe bereits seit 2014 Verteidigungsmaßnahmen organisiert. Nach dem Krieg werde alles wieder rückgängig gemacht.
Raketeneinschlag im Zentrum Charkiws
Das russische Militär verstärkt nach ukrainischen Angaben auch seine Angriffe auf weitere Städte im Land. So gab es in der zweitgrößten Stadt, Charkiw, am Morgen eine schwere Explosion. Das Außenministerium veröffentlichte bei Twitter ein Video, das einen Raketeneinschlag direkt auf dem zentralen Freiheitsplatz zeigt. "Der Feind hat heute niederträchtig das Stadtzentrum und die Wohnviertel beschossen. Mit Mehrfachraketenwerfern und Marschflugkörpern. Der Platz vor der Stadtverwaltung wurde getroffen. Es bleibt denen nichts übrig, nur solche erbärmlichen Angriffe", sagte der Charkiwer Verwaltungsleiter Oleg Sinegubow.
Wie das Innenministerium erklärte, wurden mindestens zehn Menschen getötet und 35 verletzt. Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte den Angriff "Staatsterrorismus". In einem Video erklärte er, die Angriffe auf ukrainische Städte müssten von einem internationalen Kriegsverbrechertribunal untersucht werden. "Niemandem wird vergeben. Niemand wird vergessen", sagte der Präsident.
Auch das Bischofshaus der römisch-katholischen Kirche von Charkiw wurde von einer Bombe getroffen. Sie habe aber wie durch ein Wunder nur ein Loch im Dach verursacht, teilte der Dompfarrer und Ordinariatskanzler Gregorio Semenkov dem italienischen Pressedienst SIR mit. 40 Menschen, vor allem Mütter mit ihren Kindern, hätten kurz vor dem Angriff Zuflucht im Kellergeschoss gefunden und seien unverletzt. Auch der orthodoxe Bischof von Charkiw habe in dem Gebäude Zuflucht gesucht. Er wohne derzeit bei seinem katholischen Amtsbruder Paul Gonczaruk, da er sein Haus in der Nähe der Militärzone habe verlassen müssen.
Vorwürfe von Kriegsverbrechen
Einem Berater Selenskyjs zufolge nimmt Russland bewusst Wohngebiete und Innenstädte unter Beschuss. "Russlands Ziel ist klar - Massenpanik, zivile Opfer und zerstörte Infrastruktur", sagte Mychailo Podoljak.
Das streitet Russland vehement ab. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu warf der Ukraine laut der Agentur Interfax seinerseits vor, Zivilisten als Schutzschilder zu benutzen. Er bekräftigte, Russland sei entschlossen, die "Spezialoperation" fortzusetzen, bis das gewünschte Ziel erreicht sei. Das Wichtigste sei, Russland "vor der militärischen Bedrohung durch westliche Länder zu schützen, die versuchen, das ukrainische Volk im Kampf gegen unser Land einzusetzen", sagte Schoigu. Seinen Angaben nach, "okkupiert die russische Seite kein ukrainisches Territorium und unternimmt alles für die Sicherheit der Zivilbevölkerung".
Kommt eine "Taktik der Zerstörung"?
Bislang ist es den russischen Streitkräften nicht gelungen, trotz vermeintlich militärischer Übermacht eine der großen Städte unter ihre Kontrolle zu bekommen. Ukrainische Streitkräfte und die Zivilgesellschaft stemmen sich vehement gegen die Invasion. Dies schürt zunehmend Ängste, dass die russischen Kommandeure eine Taktik der Zerstörung anwenden könnten.
"Der Schleier ist gefallen", sagte Podoljak. "Russland bombardiert aktiv die Stadtzentren, feuert gezielt Raketen und Artillerie auf Wohngebiete und Behörden ab." Das russische Militär hatte eine ähnliche Taktik bereits in Syrien und Tschetschenien eingeschlagen, wo die Städte Aleppo und Grosny in Schutt und Asche gelegt wurden.
Unklare Angaben zu Opfern
Nach Angaben des Regionsverwalters wurden auf einem Militärstützpunkt in Ochtyrka, zwischen Charkiw und Kiew, mehr als 70 ukrainische Soldaten durch russisches Geschützfeuer getötet. Auf Telegram verbreitete Dmytro Schywyzkyj Bilder eines ausgebrannte vierstöckigen Gebäudes, in dem Retter im Einsatz waren. Später schrieb er auf Facebook, bei Kämpfen am Sonntag seien viele russische Soldaten und Einwohner getötet worden. Auch für diese Angaben gibt es keine unabhängige Bestätigung.
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden seit Beginn der russischen Invasion insgesamt 136 Zivilisten getötet und 400 verletzt - die tatsächlichen Zahlen seien aber vermutlich "erheblich" höher. Die ukrainische Regierung berichtete indessen von 352 getöteten Zivilisten und 2040 Verletzten.
Unabhängig überprüfen ließen sich die Berichte nicht. Zudem gibt es keine verlässlichen Angaben über Verluste der russischen Streitkräfte, da die Regierung in Moskau keine Zahlen vorlegt. Ukrainischen Angaben zufolge verloren die Russen bislang 5710 Soldaten, 29 Flugzeuge und 198 Panzer.
Nach Angaben der Vereinten Nationen haben mehr als 660.000 Menschen seit Beginn der Invasion am Donnerstag die Ukraine in Richtung Nachbarländer verlassen. In Polen sind davon laut Außenminister Zbigniew Rau bislang rund 400.000 Menschen angekommen. Die EU-Staaten haben angekündigt, alle Flüchtlinge aufnehmen zu wollen.
In vielen Orten und Städten spitzt sich offenbar die humanitäre Lage zu. Auf Bildern waren am Montag lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften etwa in Kiew zu sehen. Präsident Selenskij kündigte am Abend an, an der Wiederherstellung der unterbrochenen Versorgungsketten zu arbeiten.