Europawahl 2024
Bilanz Jean-Claude Juncker Vom Mr. Euro zum EU-Stabilisierer
2014 trat Jean-Claude Juncker an die Spitze der "EU-Kommission der letzten Chance". Er wollte die Bürger näher an Europa heranführen. Dann wurde der Brexit zum Leit- und Leidensthema seiner Amtszeit.
Rückblende. Herbst 2014 . "Wie geht es Ihnen?", fragt ein britischer EU-Abgeordneter im Vorbeigehen. "I am surviving" ("Ich überlebe"), so die selbstironische und doch so treffende Antwort des EU-Kommissionspräsidenten.
Körperlich fragil, häufig sichtbar angeschlagen und mit einer Mischung aus schlagfertigem Humor und starker Melancholie geht Jean-Claude Juncker dem Ende seiner Amtszeit entgegen. Geprägt wird die 5-jährige Brüsseler Ära des Kommissionspräsidenten Juncker durch ein Wort, das er selber am liebsten niemals gehört hätte und das Juncker in seinen Reden vor dem Europäischen Parlament stets nur mit angewidertem Unterton ausspricht: "der Brexit".
Brexit für Juncker lange unaussprechlich
Die Entscheidung des Vereinigten Königreiches, aus der Europäischen Union auszusteigen, ist für den überzeugten Europäer Juncker die tiefste politische Enttäuschung seines Lebens. Das Wort ging kurz nach dem Referendum der Briten im Juni 2016 erst gar nicht über Junckers Lippen.
Das britische Brexit-Votum schmerzte Jean-Claude Juncker geradezu körperlich.
Heute betont der Kommissionspräsident in fast jeder seiner Reden routiniert, dass die EU und seine Kommission die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, natürlich respektierten - nicht ohne hinzuzufügen, man bedauere diese Entscheidung zutiefst. Doch damals, unmittelbar nach dem Briten-Referendum, war der Kommissionspräsident psychisch nicht in der Lage, das Nein der Briten zur EU über die Lippen zu bringen. Von einer "einzigartigen Situation" sprach Juncker im Juni 2016 unmittelbar nach dem Brexit-Referendum - und von "dieser Entscheidung". Juncker war damals nicht nur sehr traurig über diese Absage der Mehrheit der Referendumsteilnehmer an die EU. Ihn schmerzte der Brexit geradezu körperlich.
Persönliche Niederlage
Jean-Claude Juncker empfindet das Brexit-Referendum der Briten auch als seine ganz persönliche Niederlage. Systematisch hatte der Initiator des Brexit-Referendums, der damalige britische Premier David Cameron, Stimmung gegen Juncker gemacht. Bis zuletzt hatte Cameron versucht, den Luxemburger als EU-Kommissionspräsidenten zu verhindern. Cameron und viele EU-skeptische Tory-Politiker karikierten Juncker als Propagandisten eines immer mächtigeren, krakenhaften Brüsseler Bürokratiemonsters namens EU.
Der damalige britische Premier Cameron galt als persönlicher Intimfeind Junckers.
"Mr. Euro" wurde Juncker von Cameron und vielen Tory-Politikern im EU-Parlament genannt. Und das war durchaus nicht als Kompliment gemeint. Denn mit der Gemeinschaftswährung Euro wollte Großbritannien nie etwas zu tun haben. Und mit dem politischen Gemeinschaftsprojekt EU eigentlich auch nicht, sondern nur mit dem profitablen Binnenmarkt.
Klare Position gegen britische Rosinen-Pickerei
Doch wenn Ihr die Europäische Union verlasst, seid ihr natürlich auch nicht mehr Teil des europäischen Binnenmarktes, machte Juncker den Briten sehr schnell klar. Jemand, der die Europäische Union verlasse, könne nicht in derselben privilegierten Position bleiben wie die EU-Mitgliedsstaaten.
Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber nicht für die Briten. Das war Juncker von vornherein klar. Denn das Vereinigte Königreich hatte die EU immer als eine Art Wunschkonzert betrachtet. Und die sogenannte Rosinen-Pickerei auf die Spitze getrieben. Dem Euro erteilte London eine Absage, dem Schengen-Abkommen der offenen Binnengrenzen traten die Briten nicht bei. Sie weigerten sich sogar, die Grundrechtecharta der EU zu unterzeichnen, und profitieren seit 1984 vom sogenannten Britenrabatt in einer Gesamthöhe von bisher 128 Milliarden Euro.
Der Kommissionspräsident wusste: London würde versuchen, auch nach dem Ausstieg aus der EU im hoch profitablen Binnenmarkt zu bleiben. Aber die damit untrennbare verbundene Arbeitnehmerfreizügigkeit blockieren. "Nicht mir mir", signalisierte der Kommissionspräsident von vornherein. Er wusste in diesem Punkt die deutsche Kanzlerin hundertprozentig auf seiner Linie.
Einigung der zerstrittenen EU in den Brexit-Verhandlungen
Es ist das vielleicht größte Verdienst in Junckers Amtszeit, dass er die ansonsten so trostlos zerstrittene EU bei den Brexit-Verhandlungen geeint hat - gemeinsam mit seinem Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier und der nach wie vor bei Brüsseler Sondergipfeln höchst einflussreichen Angela Merkel.
EU-Kommissionspräsident Juncker und dem EU-Brexit-Chefunterhändler Barnier gelang es, dass die EU in den Verhandlungen mit Großbritannien geeint auftrat.
"Dies ist eine historisch nie dagewesene Situation." Diese Aussage zählt nicht nur zu Junckers Lieblingswendungen. Es ist auch die Überschrift seiner Präsidentschaft. Die Briten versuchen, die EU zu verlassen, den Griechen drohte zeitweise der Austritt aus dem Euro. Doch Juncker gelingt es bisher, die Fliehkräfte zu bändigen. Griechenland wurde vor dem drohenden Staatsbankrott gerettet. Und zwei Jahre nach dem Scheidungsantrag sind die Briten noch immer in der EU.
EU in fragiler Verfassung
Doch Juncker weiß: Die Situation der EU ist hochfragil. US-Präsident Donald Trump droht nach wie vor mit Strafzöllen auf europäische Autos. Die Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU bleibt eine Fiktion, der stärkere Schutz der Außengrenzen auch.
Illiberale Demokraten geben in Ungarn und Polen den Ton an. Italiens Innenminister Salvini will die kommende Europawahl nutzen, um gemeinsam mit der AfD die rechten EU-Gegner im neuen Europaparlament in Stellung zu bringen - und vielleicht auch in der zukünftigen EU-Kommission.
Amtsantritt 2014 mit "Kommission der letzten Chance"
Als "Kommission der letzten Chance" bezeichnete der passionierte Pro-Europäer Juncker sein Team. Der letzten Chance, die Bürger näher an Europa heranzuführen und den Rückfall in Nationalismus zu verhindern. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Junckers politische Gegenspieler, nämlich die britischen EU-Gegner, mit ihrem Comedy-reifen Brexit-Dilettantismus, den scheidenden EU-Kommissionspräsidenten und das Projekt Europäische Union geradezu glänzend dastehen lassen.
Einen besseren Helfer-Wider-Willen als die Brexit-Briten hätte sich Juncker gar nicht wünschen können. Er bezeichnet seinen politischen Intimfeind Cameron - den Initiator des Brexit-Referendums - als größten Zerstörer der neuzeitlichen Geschichte. Tatsache ist: Die Briten haben Juncker zum wichtigsten Kommissionspräsidenten der jüngsten EU-Geschichte gemacht.