Europawahl 2024
EU-Wahllisten Das umstrittene Spitzenkandidatenprinzip
Zum dritten Mal gibt es im EU-Wahlkampf Spitzenkandidaten. Aber was heißt das schon? Denn wer am Ende an der Spitze der EU-Kommission steht, wird nicht von den Wählern entschieden - obwohl das die ursprüngliche Idee war.
Das Spitzenkandidatenprinzip ist eine deutsche Erfindung - und nicht besonders beliebt bei den anderen Mitgliedländern der EU. Schon das Wort! Typisch deutsch, weshalb man sich in anderen EU-Ländern gar nicht erst um eine Übersetzung bemüht hat. "The Spitzenkandidatenprinzip", "le Spitzenkandidatenprinzip" - international sei das "nicht gut zu verstehen", gibt selbst der Mann zu, der als Erfinder gilt.
Die Idee hatte vor gut zehn Jahren Klaus Welle. Er war Generalsekretär des Europäischen Parlaments und machte sich mit seinem Vorstoß nicht besonders viele Freunde. Die einflussreiche Zeitung Financial Times widmete dem Deutschen eine halbe Seite, aber es war kein freundlicher Artikel. Welle sei ein "Fürst der Finsternis", der nur das Ziel verfolge, das Europäische Parlament mächtiger zu machen.
Sorgt für mehr Aufmerksamkeit
Die Kritik der Financial Times traf dabei ziemlich genau das, was Welle erreichen wollte. Bei der Europawahl sollten die Wähler künftig nicht nur die Möglichkeit haben, über die Zusammensetzung des Parlaments zu entscheiden, sondern auch die Spitze der Brüsseler Kommission mitzubestimmen.
Seit 2014 können die europäischen Parteien daher Kandidaten benennen, die mit ihrer Aufstellung jeweils für das Amt des Kommissionspräsidenten oder der Kommissionspräsidentin nominiert sind. Welle erklärt im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel die Vorteile dieses Spitzenkandidatenprinzips. Die Bürger hätten so die Möglichkeit zu erfahren, wer die Exekutive leiten soll - "die Kandidaten sollten sich schon im Wahlkampf bei ihnen vorstellen".
Die Personalisierung des Wahlkampfs sorgte in den Mitgliedsländern für mehr Aufmerksamkeit und Berichterstattung über die Wahl zum Europäischen Parlament. Welle zieht daher nach zehn Jahren eine positive Bilanz: "Seit die Spitzenkandidaten da sind, hat die Wahlbeteiligung schon um acht Prozent zugenommen."
Der Begriff "Spitzenkandidat" kann verwirrend sein, denn er bedeutet im Kontext der Europawahlen zweierlei:
Einerseits steht er für die Listenersten der deutschen Parteien, die bei der Europawahl antreten. Entsprechend dieser Listen werden die Spitzenkandidaten bei ausreichender Stimmzahl als erste für ihre Partei ins EU-Parlament gewählt.
Andererseits steht der mittlerweile europaweit verwendete Begriff für jene Person, die von den europäischen Parteizusammenschlüssen im Europaparlament als Kandidat oder Kandidatin für den Chefposten der "EU-Regierung", den Präsidentenposten der Kommission, nominiert wurde.
Manche Europapolitikerinnen sind beides: Spitzenkandidatin ihrer deutschen Partei und für die Kommissionspräsidentschaft.
Es funktionierte nur einmal
Allerdings hat die Sache mit den Spitzenkandidaten bisher nur einmal richtig funktioniert: 2014, als der Luxemburger Jean-Claude Juncker europaweiter Spitzenkandidat der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) war. Die EVP ging aus der Europawahl als stärkste Partei hervor und Juncker wurde Kommissionspräsident.
Beim zweiten Mal, 2019, klappte das nicht. Zwar hatten die Christdemokraten erneut die Wahl gewonnen, aber ihr Spitzenkandidat, der CSU-Politiker Manfred Weber, wurde von mehreren Staats- und Regierungschefs für zu unerfahren gehalten. Anders als Juncker brachte der Bayer keine Regierungserfahrung mit; zu riskant, fanden viele im Rat.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron machte sich für eine andere Deutsche stark, eine, die schon zwei Mal Bundesministerin und außerdem europäisch ambitioniert war: Ursula von der Leyen. Die noch amtierende Verteidigungsministerin hatte zwar nicht für die Europawahl kandidiert, konnte aber die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs überzeugen und wurde danach auch vom Europäischen Parlament zur Kommissionspräsidentin gewählt.
Spitzenkandidaten nicht auf Wahlzettel
Jetzt zieht sie als europaweite Spitzenkandidatin der Christdemokraten in den Wahlkampf. Allerdings steht ihr Name auf keinem Stimmzettel, denn von der Leyen kandidiert nicht für einen Sitz im Parlament. Sie möchte wieder als Chefin ins Berlaymont einziehen, den Sitz der EU-Kommission.
Ihr sozialdemokratischer Herausforderer ist der Luxemburger Nicolas Schmit, zur Zeit EU-Kommissar für Beschäftigung und Soziales. Sein Problem ist auch das Problem des Spitzenkandidatenprinzips ganz generell: geringe Bekanntheit. Kritiker sahen darin von Beginn an die Schwäche der Idee, europaweit Politiker zu nominieren.
Klaus Welle verteidigt sein Konzept gegen die Kritik. "Einige Kandidaten sind natürlich bekannter als andere", sagt er. Von der Leyen sei allein schon wegen ihrer Rolle in der europäischen Positionierung gegen Russland und für die Ukraine in der ganzen EU bekannt geworden.
Aber Schmit könne mit seiner sozialen Kernkompetenz punkten. "Er ist sozusagen Mr. Mindestlohn", stehe für den europaweiten Mindestlohn und vertrete damit eine Kernkompetenz der Sozialdemokraten.
Was von den Vorhaben übrig blieb
In der noch jungen Geschichte des Spitzenkandidatenprinzips geht jetzt eine amtierende Kommissionspräsidentin als Wahlkämpferin ins Rennen, das gab es vorher noch nicht. Für von der Leyen wird das keine einfache Sache, sie musste einige bittere Pillen schlucken, um sich der Unterstützung ihrer eigenen Parteienfamilie zu versichern.
Ihr bisheriges Kernprojekt, der europäischen "Green Deal", wird von CDU- und CSU-Politikern kritisch bis ablehnend gesehen. Neue Gesetze für mehr Klima- und Umweltschutz sollen sich künftig stärker an den Bedürfnissen der Wirtschaft und der Landwirtschaft orientieren, das fordern die Wahlkämpfer aus CDU und CSU - und dazu gehört auch ein Plädoyer für die Atomenergie.
Die Grünen sehen darin ihre Chance im Wahlkampf. "2019 hat Ursula von der Leyen noch gesagt, der 'Green Deal' sei ihr Mann-auf-dem-Mond-Projekt", erinnerte der Niederländer Bas Eickhout, Co-Spitzenkandidat von Europas Grünen neben der Deutschen Terry Reintke. "Jetzt stellen Sie sich mal vor", ätzte Eickhout kürzlich in einer Wahlkampfrunde, "dass Kennedy nach vier Jahren gesagt hätte, okay, die halbe Strecke bis zum Mond reicht doch auch aus."
Am Ende kommt es auf die Regierungchefs an
Juristisch wasserdicht ist das Spitzenkandidatenprinzip übrigens nicht verankert. Die Staats- und Regierungschefs sollen für die neue Kommissionsspitze zwar die Partei mit dem besten Ergebnis bei der Europawahl berücksichtigen - aber das muss nicht zwingend auf die Spitzenkandidatin oder den Spitzenkandidaten hinauslaufen. 2019 hat dafür ein Beispiel geliefert.
Die Kommissionschefin oder der Kommissionschef muss lediglich die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs für die Nominierung hinter sich haben. Danach hat das EU-Parlament das Recht, dem Vorschlag zuzustimmen oder ihn abzulehnen.