Geschlechtsspezifische Desinformation Wie Politikerinnen im Netz diskreditiert werden
Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind häufig mit Anfeindungen konfrontiert - besonders, wenn sie sich politisch äußern. Mit Falschmeldungen wollen politische Gegner sie zum Schweigen bringen.
"Höchst unqualifiziert" sei sie, ein "intellektuelles Leichtgewicht" und "nur wegen der Frauenquote" auf ihre Position gekommen - das sind die harmloseren Kommentare von Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern unter einem Post der AfD über Annalena Baerbock. Seit ihrer Nominierung als Kanzlerkandidatin der Grünen lässt sich an Baerbock beispielhaft die Situation beobachten, in der sich viele Frauen wiederfinden, sobald sie öffentlich in Erscheinung treten - besonders, wenn sie sich politisch äußern oder betätigen: Sie sind im Netz Anfeindungen ausgesetzt, werden beleidigt und bedroht.
Eine Umfrage der Interparlamentarischen Union von 2018 unter 123 weiblichen Abgeordneten oder Mitarbeiterinnen in nationalen Parlamenten in der Europäischen Union zeigt, dass rund 58 Prozent der Befragten im Laufe ihrer Karriere von sexistischen Angriffen in den sozialen Medien betroffen waren. Fast 47 Prozent wurde demnach schon einmal Vergewaltigung oder sonstige Gewalt angedroht.
Dass das Problem in Deutschland noch größer ist als im europäischen Durchschnitt, legt eine Umfrage des ARD-Magazins Report München von 2019 unter weiblichen Mitgliedern des Bundestages nahe: 87 Prozent der Befragten haben demnach schon Hassrede erlebt.
Geschlechtsspezifische Desinformation
Eine besondere Ausprägung der Gewalt gegen Frauen im Netz ist die Verbreitung von Falschmeldungen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen dabei von "geschlechtsspezifischer Desinformation".
Anna-Lena von Hodenberg, die Geschäftsführerin von HateAid, der einzigen Beratungsstelle für Betroffene digitaler Gewalt in Deutschland, erläutert, was Desinformation auszeichnet, die sich spezifisch gegen Frauen richtet. Vermehrt würden dabei sexualisierte Inhalte verbreitet, die auf das Schamempfinden von Frauen abzielten. "Oft geht es um das Äußere oder ihr Frausein, mit dem sie abgewertet werden", so von Hodenberg. Gegenstand der Falschinformationen seien zudem häufig Skandalthemen wie Vergewaltigung oder Pädophilie, die die Politikerinnen angeblich gutheißen würden.
Ein Beispiel für solche Falschnachrichten ist die 2016 unter dem Schlagwort "Pizzagate" bekannt gewordene Verschwörungserzählung, wonach angeblich ein Kinderpornoring aus einer Pizzeria in Washington heraus agiere, dem auch die damalige Präsidentschaftskandidatin der US-Demokraten, Hillary Clinton, angehöre.
Gefälschte Nacktaufnahmen
Auch zu Baerbock tauchten nach ihrer Nominierung verschiedene Falschmeldungen auf, die darauf abzielten, sie unglaubwürdig erscheinen zu lassen und als Politikerin zu diskreditieren.
So wurde eine angebliche Nacktaufnahme Baerbocks vielfach geteilt - im nachgeahmten Grünen-Design und mit einer Bildunterschrift versehen, in der das Foto als "Jugendsünde" bezeichnet wird. Eine Rückwärts-Bildersuche zeigt schnell, dass es sich um eine Fälschung handelt - auf dem Originalbild ist nicht Baerbock zu sehen, sondern ein Nackt-Model, das mit Baerbock die Haarfarbe gemein hat.
Die Verbreitung des Bildes dient der gezielten Sexualisierung Baerbocks. Dass dieses Ansinnen auf fruchtbaren Boden fällt, zeigen auch Kommentare unter obengenanntem Facebook-Post der AfD in Reaktion auf Baerbocks Nominierung, in dem die gefälschte Nacktaufnahme selbst keine Rolle spielt. Ein Nutzer kommentiert, er finde Baerbock "optisch attraktiv", ein anderer antwortet: "Das ist auch so gewollt von denen... Damit viele kleine Jungs ihre Stimme für sie abgeben." Ein weiterer Nutzer wendet ein, sie habe "nur Stroh in der Birne", worauf Ersterer erwidert: „Dumm f??kt gut.“ Baerbock wird außerdem als "Anal Lena" verunglimpft.
Gezieltes Verdrängen aus der Öffentlichkeit
HateAid-Geschäftsführerin von Hodenberg sieht in solcher geschlechtsspezifischer Desinformation und ihren Folgen "den Versuch, Frauen wieder zu einem Rückzug in die private Sphäre zu zwingen". Dies reiche von Behauptungen, eine Frau habe doch sicherlich ihre sexuellen Reize eingesetzt oder sich auf ihre Position 'hochgeschlafen' bis zu Vorwürfen der Vernachlässigung der eigenen Kinder bei berufstätigen Müttern, so von Hodenberg. Auch Baerbock wurde wiederholt gefragt, ob ihr Muttersein mit einer Kanzlerkandidatur vereinbar sei.
Schwach und gefährlich zugleich
Eine andere durch verschwörungsideologische Kanäle in den sozialen Medien verbreitete Falschmeldung wirft Baerbock auf Grundlage eines einzigen Fotos, das sie mit dem Milliardär George Soros zeigt, vor, sie sei dessen "Marionette" - also schwach und beeinflussbar. Gleichzeitig wird Baerbock verdächtigt, Teil eines großangelegten Geheimplans zu sein, der sie zur Kanzlerin machen will, um einer im Verborgenen bleibenden Elite die Durchsetzung ihrer Agenda und die "Zerstörung Deutschlands" zu ermöglichen - eine antisemitische Verschwörungserzählung.
Diese beiden Strategien - Baerbocks Verächtlichmachung sowie ihre Stilisierung als gefährliche Handlangerin einer Weltverschwörung - sind zwar inhaltlich widersprüchlich, lassen sich so aber häufig beobachten und haben ein und dieselbe Wirkung: Wo sie verbreitet werden, rufen sie Hass hervor. Der erscheint stellenweise gut orchestriert: Sobald eine neue Falschmeldung auftaucht, wird sie von zahlreichen Accounts auf unterschiedlichen Plattformen weiterverbreitet.
Angriffe kommen überwiegend von Rechten
HateAid-Geschäftsführerin von Hodenberg berichtet auf Grundlage der Erfahrungen aus ihrer Arbeit, dass mehrheitlich Männer Falschmeldungen über Frauen erstellen und verbreiten. Der Großteil von ihnen könne politisch dem konservativen, rechten bis rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden. Dass so besonders Frauen zur Zielscheibe werden, die nicht-weiß sind oder sich öffentlich mit Themen wie Migration, Klimaschutz oder Feminismus auseinandersetzen, ist nicht verwunderlich.
"Eindeutig frauenfeindliche Netzwerke wie die Incel-Bewegung sind stark mit rechtsextremer Ideologie verknüpft. Gleichzeitig rufen rechtsextreme Bewegungen wie z.B. ‚Reconquista Germanica‘ in ihrem 'Handbuch für Medienguerillas' gezielt zu Attacken auf Frauen auf", erläutert von Hodenberg.
In diesem mutmaßlich in rechtsextremen Gruppen zirkulierenden "Handbuch", das 2018 öffentlich wurde, finden sich Anleitungen für "Hasspostings" - und die Empfehlung, sich zu organisieren. Man müsse die schwachen Punkte des Gegners finden - ihn "fett" oder "hässlich" zu nennen, sei erlaubt, heißt es da. Die Grünen werden explizit als eines der bevorzugten Angriffsziele genannt. Auch "junge Frauen, die direkt von der Uni kommen", haben die Verfasser im Visier.
"Fatale Konsequenzen für unsere Demokratie"
Dieses Vorgehen hat Folgen: In einer Studie stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft 2019 fest, dass Hassrede im Netz Menschen verstummen lässt - insbesondere Frauen. 58 Prozent gaben an, sich seltener im Internet zu ihrer politischen Meinung zu bekennen.
Von Hodenberg spricht von "gezieltem geschlechtsspezifischem 'Silencing'". "Diese Strategie scheint aus unserer Erfahrung auch immer öfter zu funktionieren. Immer mehr Frauen ziehen sich aus Angst, ebenfalls von Desinformationskampagnen betroffen zu sein, zurück und äußern immer seltener ihre Meinung öffentlich. Dies hat im Ergebnis fatale Konsequenzen für unsere Demokratie. Eine gesunde Demokratie funktioniert nur, wenn sich alle im Netz sicher dabei fühlen, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen."