Die Angst vor dem Impfen Berechtigte Sorge oder Panikmache?
Impfungen seien Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden, sagt der Historiker Malte Thießen im faktenfinder-Podcast. Die Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim betont, man müsse Ängste ernst nehmen, Urheber von Falschmeldungen verachte sie hingegen.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wirkten Impfungen immer besser, sagt der Historiker Malte Thießen. Gleichzeitig nehme die Sorge vor Nebenwirkungen zu. Impfung seien sozusagen ein Stück weit Opfer ihrer eigenen Erfolge, erklärt Thießen im faktenfinder-Podcast der tagesschau. "Weil sie eben so gut wirken, gehen die Krankheiten zurück. Und dadurch vergessen wir letztlich die Bedrohung, gegen die wir uns impfen lassen. Und umso tragischer sind dann die seltenen Nebenwirkungen und umso größer gewichten wir die dann für unser Risiko ein."
"Wir leben mittlerweile in einem immunisierten Zeitalter", sagt Thießen, der zur Geschichte der Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und des Impfens forscht. Es sei "selbstverständlich, dass wir gegen einen Großteil der Infektionskrankheiten geimpft sind. Deshalb kennen wir Infektionskrankheiten kaum noch". Das sei mutmaßlich auch ein Grund, warum die Bedrohung durch Corona anfangs gar nicht so wahrgenommen worden sei, vermutet Thießen, weil "wir Pandemien vergessen haben".
Der Historiker Malte Thießen spricht von einer immunisierten Gesellschaft.
Projektionsfläche Impfung
Die Geschichte der Impfskepsis sei aber so alt wie das Impfen selbst, sagt der Historiker. Früher hieß es beispielsweise über den Impfstoff gegen Pocken, Menschen könnten mutieren und sich verwandeln. Doch oft geht es nach Thießens Einschätzung dabei gar nicht um das Impfen, sondern um Weltbilder: "Das Impfen ist so eine Art Projektionsfläche für ganz andere Ängste, für Vorstellungen, also beispielsweise Ängste vor dem Kapitalismus und den bösen Pharmaunternehmen".
Differenzierung zwischen Absendern und Adressaten
Die Chemikerin und Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim betont im faktenfinder-Podcast, es sei wichtig, zwischen den Absendern von gezielten Falschmeldungen und Gerüchten auf der einen und verunsicherten Menschen auf der anderen Seite zu unterscheiden. "Wer gezielt Falschmeldungen verbreitet, den verachte ich", sagt Nguyen-Kim im Gespräch mit Moderatorin Anja Reschke. Wer aber von solchen Behauptungen verunsichert wird, mit dem sollte man im Gespräch bleiben und versuchen aufzuklären.
Eine besondere Rolle falle angeblichen Experten zu, erläutert Nguyen-Kim. Wenn Leute mit einem akademischen Titel auftreten, erhalten "kreative Erzählungen ein ganz anderes Gewicht". "Und das sind auch die Personen, die ich wirklich verachte", weil sie "bewusst ihre Erzählungen spinnen, um selbst davon zu profitieren."
Oft ein wahrer Kern
In der ersten Ausgabe des faktenfinder-Podcasts der tagesschau diskutiert Moderatorin Reschke mit den beiden Gästen zudem die Frage, ob es eine Grenze gebe zwischen nachvollziehbaren Sorgen und echter Panikmache. Doch dies sei schwer zu definieren, denn oft gebe es in irreführenden Behauptungen einen wahren Kern, der aber in einen falschen Kontext gesetzt werde und Menschen verunsichere, so die Fachleute.
Nguyen-Kim erläutert zudem, warum es möglich war, schnell sichere Impfstoffe zu entwickeln - es aber dennoch zu Nebenwirkungen kommen kann, die in den Testphasen nicht entdeckt wurden. Zudem klärt sie im Gespräch mit Moderatorin Reschke über falsche Behauptungen auf, wonach die zugelassenen Corona-Impfstoffe die Gene veränderten oder einen größeren Schaden als Nutzen hätten. Das sei definitiv falsch.
Neuer Podcast der tagesschau
Den Podcast präsentieren im Wechsel Anja Reschke von Panorama und der tagesschau-Moderator Michail Paweletz. Der faktenfinder-Podcast erscheint ab dem 1. April alle 14 Tage bei tagesschau.de sowie auf der tagesschau-App, der ARD-Audiothek und vielen großen Plattformen, die Podcasts anbieten.
In den kommenden Folgen werden Reschke und Paweletz mit Fachleuten unter anderem über angeblichen Wahlbetrug sprechen, fragwürdige Behauptungen zum Klimawandel beleuchten und die Frage klären, was "Fake News" sind und wie sie sich von handwerklichen Fehlern im Journalismus unterscheiden.