Daniele Ganser hält im Rahmen der Jazztage in Dresden einen Vortrag zu Angst und Gesellschaft (30.10.2022)
Kontext

Krieg in der Ukraine Viel Aufmerksamkeit für fragwürdige Experten

Stand: 24.03.2023 17:45 Uhr

Sie füllen Hallen, schreiben Bücher oder sitzen in Talkshows: vermeintliche Experten zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Dabei gelten viele ihrer Ansichten in der Wissenschaft als abwegig - oder ganz falsch.

Von Carla Reveland und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Westfalenhalle in Dortmund: ausverkauft; Eurogress in Aachen: ausverkauft; Stadtcasino in Basel: ausverkauft. Mit seiner Vortragsreihe "Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?" füllt der Schweizer Daniele Ganser derzeit die Hallen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und das trotz Ticketpreisen von 27 Euro aufwärts. Und vor allem: trotz fehlender Expertise im Bereich osteuropäischer Geschichte, wie Experten bemängeln.

"Ganser hat sich nie intensiver mit der Ukraine oder mit Russland beschäftigt und er verfügt nicht über entsprechende Landes- oder Sprachkenntnisse", sagt Frithjof Benjamin Schenk, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. "Dennoch wird er oft als Osteuropaexperte wahrgenommen." Eigene Forschung oder wissenschaftliche Publikationen speziell über die Ukraine oder zu Russland könne Ganser nicht nachweisen, so Schenk.

"Ganser verbreitet Antiamerikanismus"

Das hindert Ganser jedoch nicht daran, seine Thesen zum russischen Angriffskrieg öffentlichkeitswirksam und gewinnbringend zu verbreiten. Diese unterscheiden sich sehr stark von dem, was aus Sicht vieler Osteuropahistoriker Konsens ist. "Sein zentrales Narrativ ist, dass letztlich die USA Schuld am Krieg in der Ukraine seien", sagt Schenk. "Ein dezidierter Antiamerikanismus zieht sich wie ein roter Faden durch seine gesamten Arbeiten." Denn Gansers bisherige Bücher beziehen sich größtenteils auf die USA und die NATO, so zweifelt er zum Beispiel die offiziellen Untersuchungsergebnisse zum 11. September an.

In Gansers Augen sind die USA für den russischen Angriffskrieg verantwortlich, da die US-Regierung unter dem damaligen Präsidenten Barack Obama im Zuge des Euromaidans 2014 angeblich einen Putsch gegen den früheren ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch angezettelt habe. Doch das sei gleich auf mehreren Ebenen falsch, sagt Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen. "Unter einem Putsch versteht man, dass politische Funktionsträger - meistens das Militär oder der Geheimdienst - die Möglichkeit einer instabilen politischen Situation nutzen, um an die Regierung zu kommen."

Somit stimme das Wort Putsch bereits nicht mit den Geschehnissen des Euromaidans überein. "Der Euromaidan war die größte demokratische Massenbewegung in Europa seit 1989. Und diese Bewegung hat große Teile der Ukraine erfasst - und zwar schichten- und generationsübergreifend", so Gestwa. Millionen von Menschen seien auf die Straße gegangen und hätten gegen das immer korrupter und repressiver werdende Janukowitsch-Regime demonstriert.

Janukowitsch wurde nicht gestürzt

Auch die Behauptung, Janukowitsch sei gestürzt worden, ist faktisch falsch, sagt Gestwa. "Abgemacht war eigentlich - und zwar auch unter europäischer Vermittlung von Polen, Deutschland und Frankreich -, dass Janukowitsch bis zum Ende seiner Amtszeit so eine Art Übergangsregime führen sollte, um dann nach den Wahlen neue politische Machtverhältnisse etablieren zu können. Janukowitsch hat sich dieser Verantwortung jedoch entzogen und ist nach Russland geflohen." Erst daraufhin sei wegen einer unklaren Verfassungslage eine Interimsregierung gewählt worden, um Neuwahlen vorzubereiten.

Das Narrativ eines Stellvertreterkriegs zwischen Russland und den USA sehen Gestwa und Schenk ebenfalls sehr kritisch. "Ganser spricht der Ukraine eine eigene Handlungsmacht und Souveränität ab und stellt die Ukrainer als Marionetten der US-Amerikaner dar", sagt Schenk. "Und dieses Narrativ ist fast deckungsgleich mit der russischen Propaganda über diesen Krieg." Daran ändere auch nichts, dass Ganser zu Beginn seiner Vorträge betone, dass er den Krieg verurteile. Denn im Anschluss komme immer das große "aber" und die vielen Relativierungen, so Schenk. Selbst die Kriegsverbrechen in Butscha zweifelte Ganser gegenüber seinen Anhängern an und bezeichnet diese als vermutliche "Fehlinformation".

"Ganser ist ein Unternehmer"

Wissenschaftlich tätig ist Ganser schon länger nicht mehr: An der Universität St. Gallen hatte er zuletzt im Jahr 2017 einen Lehrauftrag über die Geschichte und Zukunft von Energiesystemen, die Uni Basel hatte die Zusammenarbeit mit ihm bereits im Jahr 2015 beendet. Auch für das von ihm gegründete "Swiss Institute for Peace and Energy Research" - das laut Website neben Ganser aus einem Buchhalter und einem Berater besteht - hat der selbsternannte Friedensforscher in den vergangenen Jahren keinerlei Publikationen in renommierten Fachzeitschriften in diesem Bereich vorzuweisen.

"Ich würde die heutige Tätigkeit Gansers nicht als die eines Wissenschaftlers bezeichnen, sondern als die eines geschickten Unternehmers", sagt Schenk. Denn neben seiner lukrativen Vortragsreihe hat Ganser noch weitere Einnahmequellen: So kann man für 365 Euro im Jahr Mitglied seiner "Community" werden, um unter anderem an monatlichen Videofragerunden mit Ganser teilnehmen zu können. Nach Angaben des Schweizer Journalisten Marko Kovic gab das Betreiberunternehmen an, weit mehr als 500 Mitglieder zu haben - das allein entsprächen Einnahmen in Höhe von mindestens 182.500 Euro im Jahr.

Auch Guérot macht USA verantwortlich

Ebenfalls viel Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine erhielt in den vergangenen Monaten die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Momentan ist sie noch Leiterin der Professur für Europapolitik an der Universität Bonn, allerdings wurde ihr Ende Februar wegen Plagiatsvorwürfen gekündigt - Guérot kündigte daraufhin wiederum juristische Schritte an. Auch sie hat speziell zur Geschichte Russlands oder der Ukraine keine wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht, bemängeln Experten. Dennoch wurde sie unter anderem in Talkshows eingeladen.

Ulrike Guerot während der Pressekonferenz zum "European Balcony Project" am 30.10.2018

Ulrike Guérot

Ihre Thesen zum russischen Angriffskrieg ähneln denen von Ganser. Auch sie sieht die USA als Hauptverantwortliche für den Krieg, sagt Martin Aust, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn. Ihrer Ansicht nach sei das große strategische Ziel der US-amerikanischen Außenpolitik, Russland und die Europäische Union voneinander zu entfremden. Und das Instrument dafür sei die Ukraine.

Für Aust wird daraus deutlich, dass Guérot auf mehreren Ebenen nicht mit der Thematik vertraut sei. "Das übersieht auf Seiten der USA, wie stark sich dort der Fokus auf China gerichtet hat und wie sehr Europa für die US-amerikanische Außenpolitik an Bedeutung abnimmt." Zudem würden dadurch all die russischen Aggressionen der vergangenen Jahre gegenüber der Ukraine unter den Tisch gekehrt werden - beispielsweise die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der Krieg im Osten der Ukraine.

"Selektive Quellenauswahl"

Ähnlich wie bei Ganser kritisiert Aust auch bei Guérot, dass die Ukraine ausschließlich als Objekt angesehen werde, über das andere verfügten. "Sie machen sich überhaupt nicht die Mühe, sich mit der Ukraine zu beschäftigen", sagt Aust. Ebenfalls gemein mit Ganser habe Guérot die minderwertige Quellenauswahl. "Der Anmerkungsapparat erweist sich als ein dünner Aufguss von einigen Zeitungsartikeln, Internetseiten und publizistischen Texten. Wissenschaftliche Publikationen zu den einschlägigen Themen des Buches werden bis auf seltene und höchst selektive Ausnahmen nicht zitiert."

Diese selektive Auswahl zeige sich beispielsweise beim Thema Rechtsextremismus in der Ukraine. So werde auf Quellen verwiesen, die in das Schema einer zerrissenen und rechten Ukraine passten. "Unter den Tisch fällt jedoch beispielsweise das Faktum, dass es in der Ukraine zwar eine rechte Szene, aktuell jedoch im Unterschied zu vielen Ländern Europas keine rechten Parteien im Parlament gibt", sagt Aust. Das alles führe dazu, dass Guérot mit ihren Erzählungen der russischen Propaganda "vollkommen in die Karten" spiele.

Krone-Schmalz nennt Annexion der Krim "Notwehr"

Etwas differenzierter sei die ehemalige ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz zu betrachten, sagen die Experten. Anders als bei Guérot und Ganser kokettiere sie nicht mit den extremen Rändern und Verschwörungsideologen - so hatte Ganser unter anderem bei seinem Auftritt in Kiel den wegen Volksverhetzung angeklagten Sucharit Bhakdi als Ehrengast eingeladen.

Doch auch Krone-Schmalz weiche mit ihren Ansichten zum Teil stark vom wissenschaftlichen Konsens ab und relativiere die russischen Gräueltaten. Angesprochen auf die Kriegsverbrechen in Butscha reagierte sie auf einer Podiumsdiskussion beispielsweise mit der Gegenfrage, welcher Krieg nicht barbarisch sei. "Sie will nicht darüber sprechen", sagt Gestwa. "Stattdessen zieht sie ihr Narrativ einfach weiter durch." Die russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur stelle sie ebenfalls lediglich als Reaktionen auf ukrainische Aktionen dar.

Gabriele Krone-Schmalz während der MDR-Talkshow "Riverboat" am 13.11.2020

Gabriele Krone-Schmalz

Dabei könne das überhaupt nicht verglichen werden, sagt Gestwa. "Seit der Krieg begonnen hat, schießt die russische Artillerie ganz gezielt auf Infrastrukturen, auf Krankenhäuser, auf Schulen, auf Bildungseinrichtungen, auch auf Kraftwerke." Das habe eine ganz andere Qualität als beispielsweise der Angriff auf die Krimbrücke.

Auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim nannte Krone-Schmalz "Notwehr unter Zeitdruck". Dabei folgte die Annexion auf ein völkerrechtswidriges Scheinreferendum unter militärischer Besatzung. Das Ergebnis der "Abstimmung" wird nicht nur von Experten, sondern von der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft infrage gestellt. Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies von der Universität München schreibt von einem "Gewaltakt". Russlands Präsident Wladimir Putin sagte in einer Dokumentation im Jahr 2015, dass die Annexion der Krim von Russland und seinen Spezialtruppen geplant worden sei.

Dennoch genießt Krone-Schmalz innerhalb von Teilen der deutschen Öffentlichkeit ein hohes Ansehen. Aus Sicht von Aust ist das fragwürdig. Schon über ihr Buch "Russland verstehen", das einige Monate nach der Annexion der Krim und nach Beginn des Kriegs in der Ostukraine erschien, hätten Osteuropaexperten den Kopf geschüttelt. "Aber das haben wir halt unter uns in Gesprächen getan und nicht in die Öffentlichkeit getragen. Und da muss man im Nachhinein sagen, das ist ein Fehler gewesen, da hätten wir uns sehr viel früher öffentlich zu äußern sollen als Historiker."

"Sie versuchen sich in einer Schuldumkehr"

Auch wenn Ganser, Guérot und Krone-Schmalz sich von dem Krieg in der Ukraine distanzieren und Russland vordergründig verurteilen, geschehe dies nach Ansicht von Gestwa lediglich, um sich nicht angreifbar zu machen. Allerdings würden sie dennoch ganz klar prorussische Positionen verbreiten. "Das grundlegende Problem, das wir bei solchen Leuten haben: Sie versuchen sich in einer Schuldumkehr. Sie versuchen herauszuarbeiten, dass nicht Putin an allem schuld ist, sondern dass der Westen zumindest auch eine große Portion Schuld trägt."

Die Erkenntnisse der Osteuropaforschung würden dabei völlig außer Acht gelassen. Denn eine wichtige Rolle für den Krieg würde zum Beispiel die russische Innenpolitik spielen. "Es geht Putin im Wesentlichen um den eigenen Machterhalt", sagt Gestwa. "Putin konnte nicht als Modernisierer oder Reformer Geschichte schreiben, weil er seine Oligarchie unterstützen musste. Deshalb will er es unbedingt als Eroberer und als Feldherr schaffen." Aus diesem autoritären Regime Putins heraus erwachse automatisch so etwas wie eine äußere Aggression, die sich dann auch in Kriegsaktionen niedergeschlagen habe.

Akteuren wie Ganser, Guérot oder Krone-Schmalz werde angesichts ihrer aktuellen oder früheren Tätigkeit von der Öffentlichkeit ein Expertenstatus und daher Glaubwürdigkeit zugeschrieben. "Und wenn nun Vorträge und Bücher von 'Experten' mit einem wissenschaftlichen Anspruch daherkommen, ohne sich mit Russland, mit Putin oder mit der ukrainischen Gesellschaft beschäftigt zu haben, dann schränkt uns das ganz erheblich bei anderen Aufgaben ein", sagt Aust. "Wir sind permanent beschäftigt, immer wieder die gleichen Falschaussagen und Verzerrungen zu korrigieren. Das zieht Zeit von konstruktiven Beiträgen zur Gestaltung der Zukunft, etwa der Beziehungen zur Ukraine und ihrer Wissenschaft ab."

Auf Anfrage des ARD-faktenfinders antworteten Ganser, Guérot und Krone-Schmalz nicht.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, der Journalist Marko Kovic sei Österreicher. Richtig ist, dass er Schweizer ist. Der Text wurde entsprechend korrigiert.