Nach russischen Angriffen Keine Anzeichen für radioaktive Wolke
Bei russischen Angriffen soll angeblich ein Waffenlager getroffen worden sein, das Munition mit Uran enthielt. Daraufhin wurde vor einer radioaktiven Wolke gewarnt, die Richtung Westeuropa ziehe. Doch dafür gibt es keine Belege.
"Eine radioaktive Wolke ist auf dem Weg nach Westeuropa" - mit diesen Worten zitieren einschlägige Online-Medien und Telegram-Kanäle den Sekretär des russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew. Das vom Bundesverfassungsschutz beobachtete Blog "PI-NEWS" erinnerte wegen des Vorfalls an Tschernobyl und schrieb: "Jetzt droht neues Ungemach."
Grund für die zahlreichen Beiträge über eine angebliche radioaktive Wolke war eine Welle russischer Drohnen- und Raketenangriffe in und um die westukrainische Stadt Chmelnyzkyj. Nach Angaben des Bürgermeisters wurde dabei kritische Infrastruktur getroffen, 21 Menschen seien verletzt worden. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, "erhebliche Bestände an Waffen und Munition" seien zerstört und ukrainische Truppenbewegungen "gebremst" worden.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Auf die russischen Angaben beziehen sich auch die Beiträge in den einschlägigen Online-Medien und Sozialen Netzwerken. So soll nahe der Stadt Chmelnyzkyj angeblich ein ukrainisches Waffenlager getroffen worden sein, in dem sich "eine große Menge an abgereicherter Uranmunition" befunden haben soll. Dies habe dann zu der vermeintlichen radioaktiven Wolke geführt, die nun in Richtung Westeuropa unterwegs sei. Dazu kursieren Grafiken im Netz, die den Anstieg der radioaktiven Strahlung in der Nähe von Chmelnyzkyj beweisen sollen. Doch diese sind irreführend.
"Werte im natürlichen Schwankungsbereich"
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) teilt auf Anfrage des ARD-faktenfinders mit, dass eine einzelne Sonde südlich der Stadt Chmelnyzkyj zwar "minimal erhöhte Radioaktivitäts-Werte" zeigt, die sich jedoch "im natürlichen Schwankungsbereich" bewegen. Zudem seien sie so gering, "dass radiologische Auswirkungen auf Mensch und Umwelt ausgeschlossen sind".
Des Weiteren wurde der leicht erhöhte Wert nach Angaben des BfS bereits am 11. Mai gemessen, also zwei Tage vor dem großangelegten russischen Angriff auf Chmelnyzkyj. "Hinzu kommt, dass die betroffene Sonde in der zur Ausbreitungsrichtung entgegengesetzten Richtung liegt. Andere Sonden in Ausbreitungsrichtung sind weiterhin unauffällig."
Für die leichte Erhöhung der Messwerte einzelner Sonden könne es viele verschiedene Gründe geben, so das BfS. "Dazu gehören auch Defekte und technische Fehler, lokale Begebenheiten vor Ort oder das Umstoßen der Sonde und eine dadurch entstehende leichte Messabweichung."
Ob überhaupt ein Lager bei den russischen Angriffen getroffen wurde, das Munition mit abgereichertem Uran enthielt, ist derzeit noch unklar. Das BfS weist jedoch daraufhin, dass dies ohnehin nur "ein regionales Ereignis" wäre. "Ein Transport dieser radioaktiven Stoffe bis nach Deutschland in gesundheitlich bedenklichem Umfang ist ausgeschlossen. Ein besonderer Schutz in Deutschland ist daher nicht nötig."
Abgereichertes Uran hat hohe Dichte
Denn abgereichertes Uran ist um etwa 40 Prozent weniger radioaktiv als natürliches Uran. Bei abgereichertem Uran handelt es sich um ein Schwermetall, das als Abfallprodukt bei der Anreicherung von Uran für den Einsatz in Atomkraftwerken entsteht. Wegen seiner hohen Dichte geriet abgereichertes Uran in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in den Fokus der Waffenforschung.
"Um eine panzerbrechende Waffe zu bauen, benötigt es in der Regel Material mit hoher Dichte", sagt Moritz Kütt vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Da abgereichertes Uran als Abfallprodukt von Kernwaffenprogrammen und ziviler Kernenergie verhältnismäßig günstig verfügbar gewesen sei, hätten einige Länder begonnen, es für konventionelle Waffensysteme zu nutzen.
So kam es, dass Munition mit abgereichertem Uran oder auch DU-Munition (Englisch: depleted uranium munitions) zum Militärarsenal vieler Länder gehörte. Sie wurde unter anderem von den USA in den Golfkriegen oder auch von der NATO im Kosovokrieg eingesetzt. Auch Russland und die Ukraine verfügen über DU-Munition, sagt Ulf Steindl vom Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). "Das russische Militär besitzt seit 1982 DU-Munition, die Ukraine erhält diese nun durch Großbritannien."
Es gebe jedoch momentan noch keine klaren Beweise für den Einsatz durch eine der beiden Seiten. "Es ist in der Ukraine bis dato zu keinen großen Panzerschlachten gekommen, wo ein intensiver Verbrauch dieser Munition auf einem relativ kleinen Gebiet zu erwarten wäre." Die Verwendung von DU-Munition ist nach internationalem Recht nicht verboten.
Strahlengefahr eher gering
Die Strahlengefahr durch den Einsatz von DU-Munition bewerten die Experten als eher gering. "Trotz intensiver Untersuchungen gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass der Einsatz von DU-Munition in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien oder im Irak Strahlungsschäden verursacht hat", sagt Steindl. Zwar könne das abgereicherte Uran in der Umwelt nachgewiesen werden, jedoch verschwinde der Strahlungseffekt in der natürlichen Hintergrundstrahlung.
Der Wissenschaftliche Ausschuss Gesundheit und Umweltrisiken der Europäischen Kommission (SCHER) schreibt in einem Gutachten, "dass es keine Hinweise auf Umwelt- und Gesundheitsrisiken durch eine potentielle Verbreitung von abgereichertem Uran gibt". Und weiter: "Die Strahlenexposition durch abgereichertes Uran ist, gemessen an der natürlich vorhandenen Strahlung, sehr gering." Auch die Bundesregierung verweist in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD auf mehrere Studien, denen zufolge keine signifikanten Strahlenexpositionen der Bevölkerung durch DU-Munition zu erwarten seien.
Nach Angaben von Kütt liegt das daran, dass abgereichertes Uran hauptsächlich Alphastrahlen abstrahlt, die die menschliche Haut nicht durchdringen kann. Erst bei einer körperlichen Aufnahme von abgereichertem Uran, beispielsweise durch Einatmen oder Schlucken, werde es gefährlich. Durch eine Explosion eines Waffenlagers könnten theoretisch kleine Feinstaubpartikel entstehen. "Das ist jedoch in keinster Weise vergleichbar mit der Radioaktivität, die bei einer Nuklearexplosion freigesetzt wird", sagt Kütt. "Da sind deutlich mehr und deutlich radioaktive Stoffe, die dann verteilt werden."
Zudem ist abgereichertes Uran genauso wie natürliches Uran nicht spaltfähig, sagt Steindl. "Da es auch zu keinem Aufschlag auf ein Ziel oder andere Reibungseffekte kommt, ist das Entstehen von Staub oder Splittern sehr unwahrscheinlich."
Größte Gefahr durch chemische Toxizität
Die größte gesundheitliche Gefahr bei DU-Munition geht nach Ansicht der Experten daher von der chemischen Toxizität aus - ähnlich wie bei anderen Schwermetallen wie Blei oder Quecksilber. "Die Aufnahme von löslichen Uranverbindungen über die Nahrung führt zu einer Akkumulation in den Nieren und Nierenschäden sind die am häufigsten dokumentierte Folge von Urantoxizität", schreibt SCHER in dem Gutachten. Dabei würden natürliches Uran und abgereichertes Uran dieselbe Toxizität aufweisen.
Nach Angaben des BfS komme es je nach der Menge an aufgenommenen Uran in der Niere zu einem teilweisen bis vollständigen Versagen der Funktion. "Dabei müssen jedoch bestimmte Expositionswerte überschritten werden." Chemotoxische Wirkungen von Uran auf andere Organe träten erst bei weit höheren Konzentrationen auf.
DU-Munition ist jedoch nicht der einzige giftige Kampfstoff, sagt Kütt. "Die meisten Kampfstoffe haben toxische Wirkungen." Die Rückstände von Munition, Landminen oder andere explosive Kriegsrückstände können Böden und Grundwasser mit Metallen und Giftstoffen jahrzehntelang verseuchen - auch ohne abgereichertes Uran.
Russische Desinformation?
Dass von russischer Seite aus die Gefahr einer radioaktiven Wolke verbreitet wurde, kann nach Ansicht von Steindl in die breite Palette russischer Desinformationsoperationen und Informationskriegsführung eingeordnet werden: "Bereits vor der zweiten Invasion der Ukraine 2022, aber umso intensiver danach, werden Aussagen mit Bezug zu nuklearen Gefahren durch die russische Führung und andere russische Quellen betätigt." Denn Meldungen über einen Nuklearwaffeneinsatz oder nukleare Unfälle hätten eine erhöhte Auswirkung auf die westliche Öffentlichkeit und lösten oft irrationale Reaktionen aus.
Ein Problem ist nach Angaben von Kütt, dass in der Bevölkerung oftmals falsche Vorstellungen von Radioaktivität und den Mechanismen vorherrsche. Das führe zu Angst. "Und Angst ist kein guter Ratgeber."