Attila Hildmann bei einer Kundgebung in Berlin
faktenfinder

Sperrungen auf Telegram Dutzende Hildmann-Accounts weiter verfügbar

Stand: 12.04.2023 12:58 Uhr

Obwohl Attila Hildmann von Sperrungen auf Telegram betroffen war, verbreitet er über zahlreiche Kanäle weiterhin Antisemitismus und Gewaltaufrufe. Telegrams Maßnahmen seien "willkürlich und unsystematisch", so Experten.

Antisemitische Hetze, Gewaltaufrufe oder falsche Informationen über die Corona-Impfung verbreitet Attila Hildmann weiterhin auch in Deutschland über Telegram. Obwohl seine Telegram-Kanäle und Gruppen im Februar 2022 aufgrund von Verletzungen gegen lokale Gesetze gesperrt wurden und von Nutzerinnen und Nutzern mit deutscher Telefonnummer nicht mehr abrufbar sind, erreichen Hildmanns Inhalte weiterhin bis zu fünfstellige Abrufzahlen.

Das ist möglich, da Hildmann zahlreiche Zweit- und Drittkanäle sowohl unter Klarnamen als auch unter Pseudonymen betreibt. Seinem reichweitenstärksten Ausweichkanal folgen knapp 45.000 Abonnentinnen und Abonnenten. Viele der Kanäle erinnern stark an Hildmanns Namen, es fehlen beispielsweise nur die Vokale. Doch nicht immer ist der direkte Bezug sofort offensichtlich. So gibt es Kanäle, die sich im Titel auf Ereignisse wie die Flutkatastrophe im Ahrtal beziehen oder sich thematisch eindeutig gegen die Covid-19-Impfungen positionieren.

Hildmann gebe sich jedoch inhaltlich keine Mühe, seine Urheberschaft zu verschleiern, sagt Josef Holnburger, Geschäftsführer vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). "Es ist ziemlich offensichtlich, welche Kanäle Hildmanns sind. Er veröffentlicht zeitgleich seine Inhalte auf allen Kanälen und oft postet er Selfie-Videos oder Sprachnachrichten, auf denen er dann auch klar erkennbar ist."

Zahlreiche Ausweichkanäle bis heute nicht gesperrt

Eine Auswertung von Hildmanns Kanälen, die dem ARD-faktenfinder vorliegt, belegt, dass Hildmann mindestens 25 Kanäle betreibt. Davon sind gerade einmal sechs Kanäle gesperrt worden, einschließlich seines Hauptkanals. "Seit der Sperrung Anfang 2022 konnte Hildmann zahlreiche weitere Auftritte erstellen, die auch nach Meldung bis heute nicht gesperrt sind", sagt Holnburger.

Er erreiche zwar nicht mehr die Masse, die er früher erreicht habe, aber die Zahlen bewegten sich immer noch in Größenordnungen, die es für ihn attraktiv machten, Ersatzkanäle zu erstellen und zu bespielen, erklärt der Politikwissenschaftler. "Auf Telegram erreicht man das Publikum, das man erreichen will, wenn man Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus verbreitet. Auch Akteure wie Attila Hildmann, die von Sperrungen betroffen sind, haben im deutschsprachigen Raum im Prinzip keine andere Wahl, als auf der Plattform zu bleiben." Seine Strategie, um trotz fehlendem großen Kanal, Reichweite zu generieren: "Er teilt alle Nachrichten seiner privaten, nicht öffentlichen Kanäle über diese großen öffentlichen Kanäle", erläutert Holnburger. Das mache er, weil Telegram sich nur um öffentliche Kanäle kümmere, nicht jedoch um Privatkommunikation. "Das ist natürlich etwas, wie man diese Regelung sehr einfach austricksen kann."

Um bei möglichen Sperrungen nicht den Großteil seiner Anhängerschaft zu verlieren, bewirbt Hildmann deshalb ständig weitere Ersatzkanäle. So schreibt er: "Kameraden, die Knolle wird auch diesen Kanal zensieren deswegen folgt schon mal dem Nächsten! Danke und immer standhaft bleiben, diese Parasiten werden uns nicht kleinkriegen."

Telegram agiert "willkürlich und unsystematisch"

Der aktuelle CeMAS Report "Chronologie einer Radikalisierung - Wie Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus wurde" zeigt, dass die Sperrungen und Einschränkungen von Kanälen und Gruppen durch Telegram "willkürlich und unsystematisch" erfolgen. Telegram müsste nach Ansicht von Expertinnen und Experten eigentlich in der Lage sein, Methoden zu nutzen, um Kanäle und Gruppen zu identifizieren, auf denen es beispielsweise zu Gewaltaufrufen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit kommt. Das gelte auch für die Erstellung von Ersatzkanälen, sagt Holnburger. "Ihre Systeme müssten erkennen, wenn nach Sperrungen Zweit- und Drittkanäle erstellt werden. Aber sie machen davon anscheinend keinen Gebrauch."

Auch die Autorinnen und Autoren der Studie "Stützpfeiler Telegram - Wie Rechtsextreme und Verschwörungsideolog:innen auf Telegram ihre Infrastruktur ausbauen" vom Institute for Strategic Dialogue Germany (ISD) teilen die Einschätzung. Telegram geht laut Lea Gerster, Dominik Hammer und Christian Schwieter, nur "halbherzig und unsystematisch" gegen Kanäle vor, die etwa Gewaltaufrufe oder russische Propaganda verbreiten. Dabei sei das konsequente Sperren einschlägiger Accounts immens wichtig, um "der Verbreitung und Normalisierung von extremistischen Einstellungen entgegenzuwirken".

"Der Entscheidungsprozess seitens Telegram, wann welche Accounts oder Kanäle gesperrt werden, wirkt willkürlich", schreiben sie auf Anfrage des ARD-faktenfinder. Die Kriterien, nach denen Account-Sperren verhängt werden, sollten immer transparent und überprüfbar sein, was bei Telegram jedoch nicht der Fall sei.

Sperrungen erfolgen nur unter Druck

Telegram bewegt sich jedoch mittlerweile. Beteuerte das Unternehmen zunächst noch, nicht auf staatliche Anfragen einzugehen, arbeitet es indes mit Regierungen und Behörden zusammen. So wurden laut dem CeMAS-Bericht rund um ein Gespräch mit dem Bundesinnenministerium im Januar 2022 zahlreiche Kanäle und Gruppen gesperrt. In diesem Zeitraum erfolgten insgesamt 57 Sperrungen - so viele innerhalb eines Monats wie nie zuvor und danach.

Insgesamt habe Telegram 207 der von CeMAS beobachteten verschwörungsideologischen und rechtsextremen öffentlichen Kanäle und Gruppen im deutschsprachigen Raum gesperrt. Dies geschieht Expertinnen und Experten zufolge allerdings nur dann, wenn der Druck von außen groß genug sei und die Aufmerksamkeit auf den Hass, der auf der Plattform zu finden ist, das Risiko berge, dass die Telegram-App aus den App Stores von Google und Apple entfernt werden könnte. Während der Pandemie stieg der Druck auf die Plattform dann so sehr, dass das Unternehmen reagierte.

"Digitalforscher und Bürgerinitiativen, die sich mit Telegram befassen, sind der Meinung, dass das Unternehmen nur reagiert, wenn es wirklich notwendig ist", schreibt der Journalist Darren Loucaides. Dabei verpflichtet sich Telegram in seinen Nutzungsbedingungen, rechtswidrige Pornografie und Aufrufe zur Gewalt zu entfernen. Telegram zeige kein besonders großes Engagement die eigenen Regeln durchzusetzen, sagt Holnburger. "Das ist eher so ein Green- oder Whitewashing. Sie machen es nicht nachhaltig, sie nehmen es nicht ernst genug."

Sorgfaltspflichten für Betreiber Sozialer Netzwerke

Plattformen wie Telegram sind dazu verpflichtet, problematische Inhalte und Entwicklungen auf der Plattform zu unterbinden. Das umfasst beispielsweise Spams, Urheberrechtsverletzungen oder gefährliche Aufrufe zur Gewalt. In Deutschland regelt das Netzwerkduchsetzungsgesetz (NetzDG) die Pflicht, strafbare Inhalte zu melden und zu löschen. Auch europaweit soll dies per Gesetz über digitale Dienste (Digital Service Act) nun vereinheitlicht gelten. Für sehr große Online-Plattformen gelten sogar noch zusätzliche Sorgfaltspflichten.

Immer wieder wurden Vorwürfe gegen Telegram erhoben, dieser Verantwortung nicht gerecht zu werden und gegen die Pflichten zu verstoßen. So verhängte das Bundesamt für Justiz im Oktober 2022 zwei Bußgelder in Höhe von insgesamt 5,125 Millionen Euro gegen Telegram. Begründung: "Verstöße gegen die Pflicht zur Vorhaltung gesetzeskonformer Meldewege sowie gegen die Pflicht zur Benennung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in den Jahren 2021 und 2022."

Fehlende Ressourcen bei Telegram?

Warum Telegram sich nicht einheitlich, transparent und nachhaltig um die Durchsetzung ihrer Regeln und Pflichten kümmert, lässt sich nur vermuten. Auf ARD-faktenfinder-Anfrage äußert sich das Unternehmen nicht. Loucaides kommt zu dem Schluss, dass die Plattform "wegen ihrer Rolle in verschiedenen Ländern ein empfindliches Gleichgewicht finden muss". Ein weiterer Grund könnten die fehlenden Ressourcen sein. Das sieht auch Holnburger für den deutschsprachigen Raum so: "Ich kann nur vermuten, dass es auch daran liegt, dass sie wahrscheinlich kein deutsches Expert:innenteam haben. Wir wissen einfach auch nicht, wie die Contentmoderation aufgebaut ist."

Laut Telegram hat das Unternehmen derzeit etwa 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist unklar, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Moderation von Inhalten betraut sind. Im April 2021 schrieb Telegram Stellen zur Contentmoderation aus. Bis heute sind sie unverändert auf der Seite zu finden - inklusive der Bewerbungsfrist. Offenbar wurden keine oder zu wenige Content-Moderatorinnen und Moderatoren eingestellt. Fatal, wie das Team des ISD befindet. "Das zurückhaltende Moderationsverhalten seitens Telegram trägt dazu bei, dass sich extremistische Inhalte auf der Plattform einfacher verbreiten lassen als zum Beispiel auf Meta." Auch wenn Telegram bei Druck mittlerweile aktiver gegen Gewaltaufrufe agiere als noch vor zwei Jahren, sei die Plattform immer noch eine "Brutstätte für Hass und Hetze".

Telegram müsse seinen rechtlichen Verpflichtungen nachkommen und Inhalte, die nach deutschem Gesetz illegal sind, konsequent sperren. "Wenn diese auf einem Zweit- oder Drittkanal gepostet werden, müssen sie auch dort entfernt werden. Da spielt es erstmal keine Rolle, wer hinter welchem Account steckt - rechtlich ist zunächst der Inhalt entscheidend", sagen Gerster, Hammer und Schwieter vom ISD. Hier müsse künftig die Durchsetzung der neuen europäischen Digital-Gesetzgebung ansetzen, um von Telegram ein systematisches, transparentes Vorgehen gegen illegale Inhalte auf der Plattform einzufordern.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Bayern2 am 17. Oktober 2022 um 16:00 Uhr.