Debatte über Laufzeitverlängerung Atomkraft als Chance oder "Webfehler"?
Atomstrom ja oder nein? Die Union fordert wegen der steigenden Energiepreise, die Kraftwerk-Laufzeiten zu verlängern. Im ARD-Deutschlandtrend ist eine Mehrheit dafür. Klimaforscher Latif erhebt Einspruch.
Die Debatte um eine mögliche Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken (AKW) geht angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine weiter. Der Kieler Klimaforscher Mojib Latif kritisierte die Idee, die Meiler über 2022 hinaus am Netz zu halten. Wer jetzt wieder in Atomkraft einsteigen und sie vielleicht noch ausbauen wolle, dem seien Umwelt und die folgenden Generationen egal, sagte der Wissenschaftler im Interview mit der Zeitung "Trierischer Volksfreund".
Atomkraft sei die teuerste Form der Energiegewinnung, für die die Gesellschaft durch direkte und indirekte Subventionen zahle, so Latif. Er sieht einen "großen Webfehler": Gewinne strichen die Konzernen ein, Folgekosten würden auf die Gesellschaft umgelagert. Der Wissenschaftler zeigte sich enttäuscht von der "Kurzatmigkeit politischen Handelns". Eine langfristige Strategie zur Energieversorgung unabhängig von fossilen Brennstoffen fehle seit Jahrzehnten. Das Thema habe schon im Zuge der Ölkrise 1973 im Raum gestanden.
Der Klimaforscher Mojib Latif ist strikt gegen die Energiegewinnung aus Atomkraft.
Unionsfraktion will neue Brennstäbe kaufen
Unionspolitiker hingegen haben sich für eine Verlängerung der Laufzeiten ausgesprochen. Ihre Bundestagsfraktion dringt nun auf zügige Entscheidungen. "Wir können nicht bis September warten" für den Start eines entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens, sagte der parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei laut Nachrichtenagentur AFP. Seine Fraktion stehe "jederzeit" bereit für eine Sondersitzung des Parlaments. Die nächste reguläre Sitzungswoche nach der parlamentarischen Sommerpause soll am 5. September beginnen.
CDU und CSU sind wegen der angespannten Lage auf den Energiemärkten dafür, das eigentlich für den 31. Dezember geplante endgültige Abschalten der letzten drei deutschen Atommeiler zu verschieben. Sie wollen mindestens einen sogenannten "Streckbetrieb", also einen möglichst langen Weiterbetrieb mit den vorhandenen Brennstäben, lieber aber noch die Beschaffung neuer Brennstäbe und eine Laufzeitverlängerung bis ins Jahr 2024 hinein. In der Ampel-Koalition ist das Thema umstritten.
Selbst über den "Streckbetrieb" könne man aber "nicht an Weihnachten entscheiden", so Frei. Auch die Betreiberfirmen der AKW bräuchten ein "klares Signal". Er plädierte den Angaben zufolge für den Kauf neuer Brennstäbe, damit die Kraftwerke bis 2024 laufen können. Im übernächsten Winter könne nämlich die Lage durchaus schwieriger sein als jetzt. Frei verwies dabei auf die deutlich zurückgegangenen Gaslieferungen aus Russland.
Spahn: Atomausstieg kam "mit dem Wissen von heute" zu früh
Im SWR-Interview der Woche sagte hingegen der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn, er stehe weiter grundsätzlich zum Ausstieg aus der Kernkraft. Diesen hatte die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel vor elf Jahren beschlossen - als Reaktion auf die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima. Allerdings sei aus klimapolitischer Sicht die Reihenfolge falsch gewesen, "zuerst aus der klimaneutralen Kernenergie auszusteigen und den Klimakiller Kohle (…) noch länger laufen zu lassen."
Spahn räumte ein: "(Wir) haben uns von den Grünen in der damaligen Debatte nach Fukushima in die falsche Richtung treiben lassen. Wir hätten lieber zuerst die Kohlekraftwerke abgeschaltet, statt die Kernkraftwerke." In der Debatte um längere Laufzeiten fürchteten viele Grüne jetzt um "ihr Lebenswerk". Spahn appelliert:
Wenn die Grünen sich da jetzt bewegen würden, täten sie einen großen Dienst für unser Land.
ARD-Deutschlandtrend: Mehrheit für Verlängerung
Im aktuellen ARD-Deutschlandtrend hat sich eine deutliche Mehrheit der Deutschen zumindest für den vorübergehenden Weiterbetrieb der verbliebenen drei Atomkraftwerke in Deutschland ausgesprochen. 41 Prozent der Befragten befürworteten eine Weiterführung um einige Monate. Weitere 41 Prozent waren sogar dafür, die Atomenergie auch langfristig zu nutzen.
Knapp jeder Sechste der Befragten wollte dagegen wie geplant zum Jahresende aus der zivilen Nutzung der Atomkraft aussteigen. Das Ziel der Bundesregierung, Deutschland unabhängig von russischen Energie-Importen zu machen, unterstützte eine Mehrheit der Befragten: 71 Prozent hielten dieses Ziel für richtig, fast jeder Vierte hingegen für falsch.
Kritiker eines Weiterbetriebs der AKW führen unter anderem an, dass die Kraftwerke zuletzt lediglich sechs Prozent des deutschen Strombedarfs deckten. Auch würde bei einer Laufzeitverlängerung zusätzlicher Atommüll entstehen. Aktuell sind in Deutschland noch drei Atomkraftwerke am Netz: Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Gemäß Atomgesetz werden die drei jüngsten Reaktoren spätestens Ende 2022 abgeschaltet.