Einigung zum Familiennachzug "Viele Details sind noch ungeklärt"
Union und SPD atmen auf: Die Einigung zum Familiennachzug schafft ein heikles Thema vorerst aus der Welt. Der Asylrechtsexperte Daniel Thym sagt im Interview aber: Entscheidende Details sind noch ungeklärt.
tagesschau.de: Ist der von Union und SPD beschlossene Kompromiss zum Familiennachzug vernünftig und praktikabel?
Daniel Thym: Es ist zunächst ein politischer Kompromiss. Die Parteien haben sich in einer komplizierten Situation geeinigt, und das ist für Deutschland eine gute Nachricht, weil es bedeutet, dass wir vermutlich eine stabile Regierung bekommen werden. Über die rechtlichen Details muss man noch reden - da ist noch manches offen.
Daniel Thym ist Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Direktor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- & Asylrecht. Er ist außerdem Mitglied des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
Humanitäre Kriterien noch offen
tagesschau.de: Wie wird denn bestimmt, wer für den Familiennachzug und die Härtefälle in Frage kommt? Welche Kriterien könnten da greifen?
Thym: Wir haben es hier ja mit einer doppelten Nachzugsregelung zu tun. Zum einen soll es ein Kontingent für 1000 Personen pro Monat geben, die nach humanitären Gründen ausgewählt werden. Zum anderen gibt es eine zusätzliche Härtefallregelung. Völlig offen ist, nach welchen humanitären Gründen man die 1000 Plätze vergibt und wer nicht die Möglichkeit bekommt, nachzuziehen. Unklar ist auch, wie man auswählt, wer zuerst nach Deutschland kommt.
tagesschau.de: Könnte ein Kriterium der letzte Aufenthaltsort des Flüchtlings und seiner Angehörigen sein? Die Frage, ob ein Betroffener unmittelbar aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland geflohen oder über ein Flüchtlingslager gekommen ist?
Thym: Die Gerichte wenden verschiedene Kriterien an. Dazu gehört unter anderem der aktuelle Aufenthaltsort der Familie. Wenn sie in einer umkämpften Stadt wie Aleppo ist, ist das humanitäre Anliegen, nach Deutschland zu kommen, stärker zu bewerten, als wenn die Familie schon in einem Flüchtlingslager in der Türkei ist.
Eine Regelung nicht nur für Flüchtlinge
tagesschau.de: Wird auch die Lage und das Verhalten der Betroffenen in Deutschland berücksichtigt?
Thym: Das wird im Ausländerrecht immer berücksichtigt. Auch Deutsche können nicht immer die Familie nachholen, sondern müssen bestimmte Kriterien erfüllen - etwa, dass sie den Lebensunterhalt sichern können. Man kann auch auf die Sprachkenntnisse und die Integrationsbereitschaft achten. Das wird sicher auch ein Kriterium bei der Auswahl für den humanitären Nachzug sein.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt das Alter der Betroffenen?
Thym: Wenn ein 16-jähriges Kind noch in der Türkei ist, hat der Wunsch nach Familienzusammenführung ein geringeres Gewicht, als wenn das Kind erst fünf Jahre alt ist. Da stehen der Gesetzgeber und die Behörden vor harten Entscheidungen.
tagesschau.de: Könnte es Kriterien geben, die nur für Härtefälle außerhalb des Kontingents der 1000 gelten?
Thym: Hier wird es um die besonders schweren Fälle gehen. Das Verwaltungsgericht Berlin hat zum Beispiel im vergangenen November einem stark Suizid-gefährdeten Jugendlichen das Recht auf den Nachzug seiner Eltern zugesprochen. Für solche gravierenden Fälle ist die zusätzliche Härtefall-Regelung gedacht. Aber hier geht es immer um den einzelnen Fall.
Wer kommt zuerst?
tagesschau.de: Es ist umstritten, wie viele Menschen auf einen Familiennachzug warten. Aber da ihre Zahl in die Tausende geht, muss man da nicht auch aus praktischen Gründen den Zeitpunkt der Antragsstellung berücksichtigen?
Thym: Das ist ein wichtiger Aspekt. Es ist noch völlig offen, wie man entscheidet, wer innerhalb des Kontingents zuerst kommen darf. Welche Kriterien schaffen eine Reihenfolge? Das soll nun bis zum 1. August ein weiteres Gesetz regeln, und das ist auch sinnvoll, denn diese Festlegung will wohlüberlegt sein.
tagesschau.de: Kann dabei eine Rolle spielen, wer seinen Antrag zuerst oder früher als andere gestellt hat?
Thym: In einem Rechtsstaat darf das Prinzip "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" nicht das ausschlaggebende Kriterium sein. Es kann nicht sein, dass eine solche Entscheidung davon abhängt, ob man sich schon um fünf Uhr morgens vor dem Konsulat angestellt hat und andere erst um sechs Uhr. Hier wird man inhaltliche Kriterien entwickeln müssen. Die braucht man auch, damit die Behörden und insbesondere die Konsulate nicht alles alleine entscheiden müssen. Auch das wäre eines Rechtsstaats nicht würdig.
Nur wenige Härtefälle im Jahr 2017
tagesschau.de: Im vergangenen Jahr gab es ja nur rund 100 Härtefälle. Kann das bedeuten, dass es auch künftig nur wenige Familienangehörige geben wird, die über diesen Weg außerhalb des Kontigents nach Deutschland kommen?
Thym: Die bisherige Härtefallregelung, die mit dem heutigen Kompromiss fortgesetzt wird, hat bisher Wenige betroffen. Wie viele in Zukunft von ihr profitieren können, lässt sich nicht vorhersagen. Bislang haben die Gerichte die Klausel relativ strikt ausgelegt. Möglicherweise sind sie aber bereit, die Kriterien herabzusetzen, je länger die Klausel angewandt wird. Dann könnte es sein, dass über die Härtefallklausel außerhalb des Kontingents mehr Menschen nach Deutschland kommen. Aber sie werden sicher nicht jedem das Recht auf Familiennachzug zusprechen - das geben die Grundrechte nicht her.
tagesschau.de: Kritiker der bisherigen Regelung und des neuen Kompromisses verweisen auf den besonderen Schutz der Familie, den das Grundgesetz garantiert. Steht diese Garantie im Widerspruch zu diesen Beschränkungen beim Familiennachzug?
Thym: Das ist keine verfassungswidrige Regelung - weil es die Härtefallklausel gibt. Der besondere Schutz, den Ehe und Familie nach dem Grundgesetz und den europäischen Menschenrechten genießen, ist kein Recht, in einem ganz bestimmten Land zusammen zu leben und hierfür ein Visum zu erhalten. Das ergibt sich eindeutig aus der Rechtsprechung diverser Höchst-Gerichte. Deshalb ist auch die neue Regelung verfassungskonform.
tagesschau.de: Ist der heutige Kompromiss die Abschaffung des Anspruchs auf Familiennachzug bei subsidiär Schutzbedürftigen, wie es die CSU für sich reklamiert?
Thym: Juristisch bedeutet der Begriff "Anspruch", dass er eingeklagt werden kann. Einen Platz im Kontingent kann man in der Tat nicht einklagen, weil es sich hier um eine sogenannte Ermessensbestimmung handelt. Allerdings wird man die Härtefallklausel außerhalb des Kontingents unter Umständen einklagen können. Das gilt aber nur für besonders gelagerte Einzelfälle. Ein generelles Klagerecht auf Familiennachzug besteht nicht. Insofern sprechen wir nur noch von einem teilweisen Anspruch.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de