Fragen und Antworten Worum geht es bei dem Asylstreit?
Bundesinnenminister Seehofer will Flüchtlinge an deutschen Grenzen zurückschicken können, Kanzlerin Merkel hingegen befürwortet eine europäische Lösung. Fragen und Antworten zum Asylstreit.
Worum geht es bei dem Asylstreit genau?
Im Kern streiten CSU und CDU darüber, ob auch Asylbewerber ohne Papiere sowie bereits abgeschobene Bewerber über die deutsche Grenze gelangen dürfen. Bundesinnenminister Horst Seehofer will Flüchtlinge abweisen, die in der Fingerabdruckdatei Eurodac registriert sind - und zwar sowohl, wenn sie in einem anderen EU-Land schon einen Asylantrag gestellt haben, als auch nach einem reinen Grenzübertritt in ein anderes EU-Land.
Bundeskanzlerin Angela Merkel beruft sich auf geltendes EU-Recht, wonach Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten haben. Sie macht sich zudem für einen besseren EU-Außengrenzschutz stark sowie für ein besseres Verteilsystem von Flüchtlingen innerhalb Europas. Ab dem 28. Juni will Merkel darüber noch einmal mit den Europäischen Staats- und Regierungschefs verhandeln.
Stimmt es, dass immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen?
Nein, die Zahl der Flüchtlinge geht zurück. In Passau an der deutsch-österreichischen Grenze beispielsweise wollten im Oktober 2015 - zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise - 140.000 Flüchtlinge nach Deutschland einreisen, so ein Sprecher der Bundespolizei. Im Januar 2016 versuchten noch 23.000 Flüchtlinge pro Monat einzureisen. Derzeit sind es monatlich 150.
Auf alle deutschen Grenzen bezogen, sind die Zahlen wie folgt: 2016 stellte die Bundespolizei 111.843 Flüchtlinge fest. Davon wurden 20.851 zurückgewiesen.
2017 halbierte sich die Zahl der Einreisenden, erklärt Christian Marx, Sprecher der Bundespolizei, auf Anfrage von tagesschau.de. 50.154 Menschen versuchten 2017, unerlaubt nach Deutschland einzureisen. Davon wurden 12.370 zurückgewiesen.
Sind Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums überhaupt legal?
Die Grenzkontrollen, die derzeit im Schengen-Binnenraum durchgeführt werden, sind eine Antwort auf die Vorgänge 2015 / 2016 in Griechenland, erklärt Politikwissenschaftler und Migrationsexperte Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Interview mit tagesschau.de. Etliche Berichte von Menschenrechtsorganisationen weisen daraufhin, dass das Schutzsystem in Griechenland damals de facto nicht existierte.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigte in mehreren Urteilen die schwerwiegende Kritik an den Haft- und Aufnahmebedingungen in Griechenland. Auch das Ministerkomitee des Europarates bestätigte die fortbestehenden Mängel im griechischen Asylsystem.
Wenn es systematische Mängel in einem EU-Land gibt, die den Schengen-Raum betreffen, dann kann die EU-Kommission andere Staaten dazu ermächtigen, Binnengrenzkontrollen durchzuführen. Diese Mängel müssten aber regelmäßig überprüft und erneuert werden. Die Ermächtigung hierzu ist jedoch schon im November 2017 abgelaufen. Danach gab es eine Verlängerung. Spätestens November 2018 ist aber auch die aktuelle rechtliche Grundlage für Grenzkontrollen nicht mehr haltbar.
Was genau überprüft die Bundespolizei an der deutschen Grenze?
Sie überprüft unter anderem, ob Reisende die erforderlichen Einreisevoraussetzungen nach Artikel 6 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) erfüllen. Zu den Einreisevoraussetzungen nach Artikel 6 Schengener Grenzkodex zählen der Besitz eines gültigen Reisedokumentes und der Besitz eines gültigen Visums. Reisenden, die die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen, wird gemäß Artikel 14 Schengener Grenzkodex die Einreise verweigert. Von der Einreiseverweigerung wird abgesehen, wenn jemand ein Schutzersuchen vorbringt, in Deutschland also Asyl beantragen möchte.
Was spricht für eine gesamteuropäische Lösung?
Wenn Europa keine gemeinsame Lösung anstrebt, wird es mehr Anreize für Schmuggler geben, sich Schlupflöcher zu suchen, sagt Migrationsexperte Bossong. Das würde zu mehr Unruhe an den Grenzen im Schengen-Binnenraum führen. Als Beispiel führt Bossong den französisch-italienischen Grenzort Ventimiglia an, in dem Flüchtlinge wilde Lager errichtet haben und in einem quasi rechtsfreien Raum leben, weil keines der beiden Länder sie aufnehmen will.
Wie könnten andere EU-Länder reagieren, wenn Deutschland Flüchtlinge an seinen Grenzen abweist?
Länder wie Italien beispielsweise könnten aufhören, Flüchtlinge zu registrieren. Das hätte zur Folge, dass diese dann weiterreisen, um sich in Deutschland erstregistrieren zu lassen und somit ein Recht erwirken, in Deutschland Asyl zu beantragen. Damit würde genau der Effekt eintreten, den Bundesinnenminister Seehofer vermeiden will. Damit würde außerdem EU-Recht gebrochen werden.
Wie kann die EU reagieren, wenn einzelne EU-Länder Flüchtlinge nicht mehr ordnungsgemäß registrieren?
Sie kann ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wie es derzeit gegen Polen und Ungarn schon läuft, weil sich diese Länder nicht an der Flüchtlingsverteilung beteiligen, erklärt Bossong. Im Schengen-System gebe es eine Evaluation, mit der man systematische Mängel an den Grenzkontrollen feststellen lassen kann. Das kann von der mehrfachen Ermahnung bis hin zur zeitweiligen Suspension eines Landes aus dem Schengen-System reichen. Die stand Ende 2015 /Anfang 2016 gegenüber Griechenland im Raum, als eine große Menge von Personen über Griechenland eingereist war, und das Land nur lückenhaft kontrolliert hat.
Welches Recht ist ausschlaggebend für die Asylpolitik in Deutschland – EU-Recht oder deutsches Verfassungsrecht?
Die Rechtslage ist schwierig, so Bossong. Die Auffassung der meisten Europa-Rechtler sei, dass Europarecht deutsches Recht sticht, selbst dann, wenn man den nationalen Notstand ausrufen wolle, auf den es gegenwärtig keine Hinweise gibt, da Deutschland – anders als Frankreich – nicht unmittelbar terroristisch bedroht werde.
Der asylrechtliche Schutz hat seine rechtlichen Grundlagen im nationalen Verfassungsrecht, im Völkerrecht sowie im Recht der EU. In der praktischen Anwendung sind diese unterschiedlichen Rechtsgrundlagen extrem komplex.
Muss Deutschland mehr Flüchtlinge an andere Staaten überstellen?
Ja, das ist nicht von der Hand zu weisen, sagt Bossong. Das liege unter anderem daran, dass einige Staaten, in denen Flüchtlinge zuerst registriert wurden, nicht richtig mit Deutschland kooperieren. Das Dublin-Verfahren erlaubt eine schnelle Zurücküberstellung aber nur dann, wenn der andere Staat, an den die Person zurückgeschickt wird, sich dazu auch bereit erklärt.
Was bezweckt Bundesinnenminister Seehofer mit seinem sogenannten Masterplan in der deutschen Flüchtlingspolitik?
Zunächst einmal versuche Seehofer, damit die bayrische Landtagswahl zu gewinnen, erklärt Politikwissenschaftler Nils Diederich von der Freien Universität Berlin. Längerfristig versuche die CSU, die Union von der sozial-liberalen Linie abzubringen. Dazu gehöre die Rückbesinnung auf die nationale Identität. Das ziele darauf, die Wähler, die an die AfD verloren gegangen waren, wieder zurückzugewinnen. Die CSU weist diese Einschätzung jedoch zurück.
Welche Szenarien sind vorstellbar, sollte Seehofer jetzt an Merkel vorbei per Ministerentscheid seinen sogenannten Masterplan umsetzen?
Setzt Seehofer seinen Plan in die Tat um, würde der CSU-Chef Merkel damit direkt politisch herausfordern - obwohl er als Innenminister seine formellen Kompetenzen damit nicht überschreiten würde.
Politikwissenschaftler Diederich zufolge müsste die Kanzlerin, die ja die Richtlinienkompetenz hat, dann konsequenterweise im Bundestag ihre Vertrauensfrage stellen. Das hätte zur Folge, dass die Kanzlerin dem Bundespräsidenten vorschlagen kann, Neuwahlen abzuhalten.
Vorstellbar wäre auch, dass ein Schlichter einen Kompromiss zwischen den Schwesterparteien aushandelt.
Welche Positionen vertreten die anderen Parteien im Bundestag in der Asylfrage?
Die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles übte scharfe Kritik am Koalitionspartner CSU. Eine vernünftige Lösung in der Flüchtlingspolitik könne nur auf europäischer Ebene gefunden werden, sagte sie.
Auch die Grünen verurteilten das Vorgehen von Bundesinnenminister Horst Seehofer und der CSU im unionsinternen Asylstreit als unverantwortlich. Fraktionschef Anton Hofreiter sagte, die Instabilität in der Regierung gefährde mittlerweile auch die Stabilität in Deutschland und in der EU.
Die Fraktionschefin der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, kritisierte, dass die Union sich auf offener Bühne zerlege. Linksparteichef Bernd Riexinger forderte Seehofer zum Rücktritt auf.
Die AfD bezeichnete den Unionsstreit als rein wahltaktisches Manöver. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel warf der CSU "Wahlkampfgetöse" vor.
Beistand bekam Seehofer von FDP-Chef Christian Lindner. Er sagte, eine Rückkehr zum alten Recht erhöhe den Einigungsdruck in der EU.