Nach der Urteilsverkündung demonstrieren Gegner des Paragraf 218 in Karlsruhe gegen das Urteil. (Archivbild: 25. Februar 1975)
Hintergrund

Abtreibungsrecht in Deutschland Der lange Streit um Paragraf 218

Stand: 24.06.2022 18:01 Uhr

Das Abtreibungsurteil des Supreme Court schlägt in den USA und international hohe Wellen. Auch in Deutschland spielen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Rolle.

Von Frank Bräutigam und Kolja Schwartz, ARD-Rechtsredaktion

Karlsruhe am Morgen des 25. Februar 1975: Rund 1000 Polizisten sichern eine Bannmeile rund um das Bundesverfassungsgericht im Schlossbezirk. Tausende Menschen demonstrieren in der Karlsruher Innenstadt, die Stimmung ist aufgeheizt. Um 11 Uhr soll das Urteil über die Reform des Abtreibungsrechts verkündet werden.

Dass Karlsruhe die beschlossene Liberalisierung kippen würde, war da schon länger durchgesickert. Gut eine Woche später wird sogar ein Sprengsatz am Gericht detonieren, einige Scheiben gehen zu Bruch. Eine unbekannte Gruppe "Frauen der revolutionären Zelle" bekennt sich dazu.

Deutschland diskutiert über das Tabuthema

Gut drei Jahre zuvor, am 6. Juni 1971, erscheint in Deutschland das Magazin "Stern" mit dem Titel "Wir haben abgetrieben". 374 Frauen sind namentlich genannt. Auf dem Titelbild sind viele von ihnen sogar mit Foto zu erkennen. Die Aktion gilt als Beginn einer Frauenbewegung für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts.

Plötzlich wird in Deutschland über das Tabuthema diskutiert. 1974 beschließt der Bundestag unter der sozial-liberalen Koalition von Bundeskanzler Willy Brandt mit knapper Mehrheit eine Reform des Paragrafen 218. Man führt die sogenannte Fristenlösung ein. Ein Abbruch soll in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft straffrei bleiben.

Bundestag setzt Verschärfung um

Im Februar 1975 folgt dann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu. Der Erste Senat des Gerichts unter Präsident Ernst Benda kippt den Liberalisierungsversuch. Die neue Regelung verstoße gegen die Verfassung. Der Staat habe nach dem Grundgesetz die Pflicht, menschliches Leben zu schützen. Und das gelte auch für das noch ungeborene, sich entwickelnde Leben.

Ein Schwangerschaftsabbruch dürfe deshalb nur dann straffrei bleiben, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar sei. 1976 setzte der Deutsche Bundestag das Urteil um und verschärfte den Paragrafen 218 wieder. Eine Fristenlösung gibt es nicht mehr. Unter bestimmten Voraussetzungen bleibt der Schwangerschaftsabbruch aber rechtmäßig: etwa wenn es eine medizinische oder soziale Notlage gegeben ist, oder nach einer Vergewaltigung.

Dissens im Richter-Kollegium

Deutliche Kritik gibt es damals auch aus dem Gericht selbst. In ihrer abweichenden Meinung schreiben die Richterin Waltraut Rupp-von Brünneck und der Richter Helmut Simon, die Entscheidung verkehre die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil.

Aufgabe des Gerichts sei es zu prüfen, ob der Staat etwas bestrafen darf, und nicht, ob er etwas bestrafen muss. Ein anderer Verfassungsrichter verließ aus Protest den Saal, während die abweichende Meinung verlesen wurde.

Beratung wird 1992 zur Pflicht

Mit der Wiedervereinigung 1990 entflammt die Diskussion um Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs erneut. Denn in den neuen Bundesländern gilt zunächst noch weiter DDR-Recht. Und das sieht seit 1972 eine Fristenregelung vor. In den ersten zwölf Wochen dürfen Frauen frei über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.

Der Einigungsvertrag schreibt aber eine gesamtdeutsche Neuregelung vor. Erneut setzen sich viele mit der Kampagne "Mein Bauch gehört mir" dafür ein, dass der Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert wird.

1992 beschließt der Bundestag eine Reform. Eine Kombination aus "Fristenlösung" und "Beratungslösung". Man führt eine Pflichtberatung ein. Nach der Beratung soll der Abbruch in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft straffrei bleiben. Der Eingriff ist dann nicht rechtswidrig. Die Krankenkassen sollten in diesen Fällen auch die Kosten übernehmen.

Karlsruhe greift erneut ein

Auch diese Reform landet in Karlsruhe. 1993 fällt das zweite große Urteil zum Paragrafen 218. Wieder kippen die Richterinnen und Richter das Modell des Gesetzgebers. Das Grundgesetz verpflichte den Staat, das ungeborene Leben zu schützen. Dies verlange, dass der Schwangerschaftsabbruch weiterhin grundsätzlich als Unrecht gelte und verboten sei.

Nach einer Beratung dürfe der Abbruch in den ersten zwölf Wochen zwar "straflos" bleiben, müsse aber weiter als "rechtswidrig" gelten, also als Verstoß gegen die Rechtsordnung. Nur so werde Frauen in der Beratung bewusst gemacht, dass sie im Prinzip die Rechtspflicht haben, das Kind auszutragen. Grundsätzlich dürfe es auch keine Kostenübernahme der Krankenkassen von rechtswidrigen Eingriffen geben. 1995 setzt der Gesetzgeber die Vorgaben aus Karlsruhe um.

Rechtswidrig, aber straffrei

Bis heute gilt in Deutschland diese modifizierte Beratungslösung. Frauen, die in den ersten zwölf Wochen die Schwangerschaft abbrechen wollen, müssen zwingend davor zu einer anerkannten Beratungsstelle gehen. Nach der Beratung müssen sie eine "Überlegungsfrist" von drei Tagen einhalten.

Sind die Voraussetzungen erfüllt, bleibt der Abbruch zwar rechtswidrig, aber straffrei. Darüber hinaus ist der Abbruch rechtmäßig, wenn es dafür bestimmte medizinische Gründe gibt oder das Kind aufgrund einer Vergewaltigung entstanden ist.

Eva Ellermann, Eva Ellermann, ARD Berlin, 24.06.2022 13:13 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 24. Juni 2022 um 12:09 Uhr.