Anschlag vor vier Jahren "Deutschland hat viel gelernt im Umgang mit Hanau"
Bislang haben sich vorwiegend die Angehörigen der Opfer von Hanau für Aufklärung und Erinnerungsarbeit eingesetzt. Mit der neuen Demokratiebewegung bekommen sie nun Verstärkung, sagt Extremismusforscher Quent im Interview.
tagesschau.de: Die Zivilgesellschaft geht seit Wochen auf die Straße, um gegen rechtsextreme Hetze und für eine offene Gesellschaft zu demonstrieren. Gibt es eine Brücke zwischen der Auseinandersetzung mit dem Anschlag von Hanau und dieser neuen Demokratiebewegung?
Matthias Quent: Ja, die gibt es. Einerseits inhaltlich: Es geht letztlich um Rassismus, um einen besonders radikalisierten Rassismus im Fall des Anschlags von Hanau. Er wurde von einem allein handelnden Täter ausgeübt.
Auch die Demonstrationen, die in den vergangenen Wochen stattgefunden haben, wurden letztlich durch die Debatte über die Enthüllungen von Correctiv zum Thema "Remigration" und dem Treffen in Potsdam ausgelöst. Das heißt, es sind antirassistische Proteste.
Gleichzeitig muss man sagen, dass die Proteste in Hanau und überhaupt alles, was wir an Aufarbeitungsarbeit in Bezug zu diesem Anschlag erlebt haben, in den vergangenen Jahren doch sehr stark von den Angehörigen der Betroffenen kam.
Die betroffenen Communities bekamen Unterstützung, aber sehr viel wurde hier selbst aufgebaut. Die Proteste der letzten Wochen haben eine deutlich breitere Basis, also ein vielfältigeres soziales oder auch politisches Feld, das hier auf die Straße geht.
Matthias Quent ist Professor am Institut für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
"Hier geht es insbesondere um die Ermordeten"
tagesschau.de: Helfen stille Gedenktage wie heute in Hanau, aber auch laute Demonstrationen wie am Wochenende dabei, diese allgemeine Protestwelle weiterzutragen und so am Leben zu erhalten?
Quent: Man muss einerseits auf die Gemeinsamkeiten schauen, aber andererseits würde ich es auch nicht gleichsetzen. Gerade die Proteste in Hanau aus der Community heraus gab es auch in den Vorjahren in unterschiedlicher Größe.
Hier geht es natürlich insbesondere um die Ermordeten und auch um das, wofür Hanau steht: Also für einen tiefer sitzenden Rassismus, für Probleme, die es in den Behörden gab. Für Probleme, die es in der Gesellschaft gibt, die diese Taten erst hervorbringen.
Die neue Demokratiebewegung, die sich sehr stark gegen die AfD beziehungsweise gegen den Rechtsextremismus in der AfD richtet, spielt noch mal auf einer anderen Ebene und hat deswegen auch einen anderen sozialen Hintergrund.
"Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe"
tagesschau.de: Können die Proteste, insbesondere das Erinnern an die Morde in Hanau, dazu beitragen, dass bei einigen AfD-Wählern doch ein Umdenken einsetzt?
Quent: Ich glaube, mit dieser Erwartung sollte man die Proteste nicht überladen. Ich kann mir zwar sehr gut vorstellen, dass Menschen angesichts des Schicksals der Ermordeten irritiert sind, stolpern, sich selbst reflektieren und hinterfragen. Ich denke, dass das massenhaft passiert.
Aber das ist nicht die zentrale Aufgabe dieser Proteste und auch nicht derjenigen, die die Proteste im Gedenken an Hanau vorantreiben. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, einen Umgang mit der AfD zu finden. Das ist nicht die Aufgabe derjenigen, die von Rassismus betroffen sind.
"Eine Beteiligung der AfD wäre nicht glaubwürdig"
tagesschau.de: Die AfD hält sich auffällig zurück beim Gedenken in Hanau. Liegt es daran, dass die Partei weiß, dass sie hier nichts gewinnen kann?
Quent: Na ja, die AfD ist da in einer schwierigen Rolle. Einerseits gibt es bei der Tat Verbindungslinien zur AfD. Der Täter hatte am Vorabend seiner Morde in Hanau YouTube-Videos geschaut, unter anderem Reden von Björn Höcke.
Das heißt: Eine Mehrheit, 60 Prozent der Bevölkerung, gibt der AfD eine Mitverantwortung für diese Taten. Und tatsächlich ist sie ja auch verantwortlich für ein Klima, in dem Rassismus wächst und in dem es immer wieder zu Gewalttaten kommt. Auch wenn es nicht gleich Morde sind.
Die Angehörigen wollen in der Regel überhaupt nicht, dass die AfD sich am Gedenken beteiligt. Das will auch die Unterstützungsgemeinschaft nicht. Sie wollen nicht, dass diese schreckliche Tat, diese schrecklichen Morde, politisch instrumentalisiert werden.
Schon gar nicht von der AfD, um sich die eigene Weste sauber zu putzen und sich davon zu distanzieren. Eine Beteiligung wäre nach meinem Dafürhalten zumindest auf der politischen Ebene auch nicht glaubwürdig.
Am 19. Februar 2020 hatte ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun junge Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. Die Opfer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst.
"Tätertypus, der sich politisch radikalisiert hat"
tagesschau.de: Der Täter von Hanau war Rassist, Einzelgänger und psychisch krank. Wenn wir uns die heutige rechtsradikale Szene in ihrer Gänze anschauen: Gibt es etwas, was diese Tat und der Täter uns lehrt?
Quent: Ja, es lehrt uns einiges. Etwa die Veränderung des rechtsterroristischen Umfelds. Das ist ja nicht die einzige Tat in den letzten Jahren, wo ein Attentäter allein gehandelt hat, der nicht zu einer rechtsextremen Gruppe gehört. Da schauen die Sicherheitsbehörden ja immer hin: Gibt es Mitgliedschaften?
Auch bei anderen Anschlägen, beispielsweise in München, in Halle oder im internationalen Kontext hat man in den vergangenen Jahren häufiger einen Tätertypus gesehen, der sich politisch radikalisiert hat. Er nimmt seine ideologischen Bezüge vor allem auch über soziale Medien wahr oder aus dem privaten Umfeld - der Attentäter von Hanau beispielsweise durch die Erziehung seines rassistischen Vaters.
Die rechtsextreme Szene hat sich ausdifferenziert. Es gibt die neue Rechte, es gibt diese allein handelnden Attentäter. Es gibt aber auch noch die alten Neonazis. Das Spektrum ist also vielfältiger und komplexer geworden. Reichsbürger und so weiter gehören auch dazu.
tagesschau.de: Viele Hinterbliebene der Opfer von Hanau haben der Polizei und auch der Politik vorgeworfen, ziemlich unsensibel und gleichgültig in die Nachbearbeitung gegangen zu sein. Hat Deutschland seitdem etwas dazugelernt?
Quent: Ich denke, dass Deutschland viel gelernt hat im Umgang mit Hanau. Sehr schnell hatte der frühere Bundesinnenminister Seehofer damals von Rassismus gesprochen. Bundeskanzlerin Merkel, der Bundespräsident, fuhren nach Hanau.
Das sind Dinge, die waren vorher gar nicht selbstverständlich, obwohl es seit der Wiedervereinigung über 200 rechtsextreme Todesopfer in Deutschland gab. Also so ein offensiver Umgang und damit auch eine Veränderung der Erinnerungskultur.
Auch im Bericht des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag gab es die Einsicht: Ja, wir brauchen in der Polizei eine Fehlerkultur, um in solchen Situationen und auch in Fragen von interkultureller Kompetenz besser zu werden.
Das ist leider keine Selbstverständlichkeit. Das heißt, es passiert langsam etwas. Und es zeigt sich, dass auch Institutionen lernfähig sind.
Das Gespräch führte Katrin Schmick, HR.