Jugendamt Gelsenkirchen

Bundesweite Umfrage Überlastete Jugendämter werden zur Gefahr für Kinder

Stand: 08.01.2025 10:52 Uhr

Fast 150 Jugendämter haben in einer WDR-Recherche angegeben, den Kinderschutz aktuell nicht gut gewährleisten zu können. Die Befragung zeigt, wie groß die Probleme sind.

Von Berit Kalus und Nándor Hulverscheidt, WDR

Ein großes Backsteingebäude in einer der ärmsten Kommunen Deutschlands. Es ist das Jugendamt in Gelsenkirchen. Hier versucht die 28-jährige Sozialarbeiterin Sophie Schöttler täglich, Kindern zu helfen oder sogar Leben zu retten. Sophie Schöttler arbeitet im Allgemeinen Sozialen Dienst, kurz ASD. Oft bearbeitet sie Kinderschutzfälle: Dabei müssen die Mitarbeiter im ASD klären, ob Kinder zu Hause in Gefahr sind - und sie im Notfall schützen.

Das Problem: Wie in vielen anderen Jugendämtern auch herrscht oft Zeitdruck. Es gibt zu viele Fälle für zu wenig Mitarbeiter. Im Frühling 2024 waren im ASD Gelsenkirchen 20 Prozent der Stellen nicht besetzt. Auch bei Sozialarbeiterin Sophie Schöttler türmen sich die Fälle auf dem Schreibtisch. Zeitweise muss sie sich um insgesamt 65 Familien kümmern - teilweise mit mehreren Kindern. Das sind etwa doppelt so viele Fälle, wie sie laut Gewerkschaft haben sollte. "Ich empfinde gerade die Situation aktuell als sehr belastend, sehr anstrengend", sagt die junge Sozialarbeiterin.

Sophie Schöttler

Zeitweise muss sich Sozialarbeiterin Schöttler um 65 Familien kümmern.

Überlastung ist oft die Regel

Überlastung von Mitarbeiterinnen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ist in einigen Ämtern nicht die Ausnahme, sondern die Regel. "Ich habe auch manchmal echt Angst davor gehabt, dass irgendein Kind umkommen könnte in so einer Situation, so wie ich arbeite", sagt eine ehemalige ASD-Mitarbeiterin aus einem anderen Jugendamt. Sie war zu Höchstzeiten zuständig für 137 Fälle.

Eine Jugendamtsleiterin ergänzt: "Es kommt vor, dass man weinende Mitarbeiter im Büro sitzen hat, weil sie sagen 'Ich kann das alles nicht mehr'. Wir haben bereits in den letzten Jahren diverse Überlastungsanzeigen gestellt, auf die bisher nur sehr wenig Reaktion erfolgte." Die Leiterin möchte anonym bleiben - aus Angst vor beruflichen Konsequenzen.

Rund 300 Jugendamtsleitungen bundesweit haben auf eine Befragung des WDR zu diesen Themen geantwortet. Mehr als die Hälfte von ihnen gab an, dass ihre Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst häufig oder sogar dauerhaft überlastet seien.

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen dadurch immer wieder entscheiden, welche Aufgaben noch warten können, um sich um dringende Fälle kümmern zu können.

Vorgaben aus dem Bundestag, Budget aus den Kommunen

Fast 42 Prozent der antwortenden Jugendämter berichten, dass es im ASD schon zu einer Situation kam, in der die Mitarbeiter priorisieren mussten und für einige Zeit nur die schlimmsten Fälle bearbeiten konnten. "Es ist an manchen Tagen so schlimm, dass gerade genug Mitarbeiter da sind, um den Kinderschutz aufrechtzuerhalten", sagt die Jugendamtsleiterin.

Viele Vorgaben für die Arbeit der Jugendämter kommen aus dem Bundestag. Ihr Budget erhalten die Ämter jedoch von Städten und Kreisen. Manchmal ist gerade dort das Geld knapp, wo der Bedarf groß ist.

Jede vierte teilnehmende Jugendamtsleitung gab gegenüber dem WDR an, ihr Geldgeber habe sie schon mal zum Sparen bei Hilfen zur Erziehung oder im Kinderschutz aufgefordert. Und das kann für hilfsbedürftige Familien zu einem großen Problem werden, betont die Jugendamtsleiterin: "An einer Hilfe zur Erziehungsleistung zu sparen, bedeutet im Endeffekt für die Familien, dass sie im Zweifel gar keine Unterstützung haben, dass sie in eine Spirale absinken, wo es der Familie und den Kindern immer, immer schlechter geht."

Fehlende Plätze für Unterbringung

In den vergangenen Jahren mussten Jugendämter immer häufiger gefährdete Kinder und Jugendliche in Obhut nehmen. Dabei mangelt es deutschlandweit an Plätzen für deren kurzfristige und dauerhafte Unterbringung. Mehr als 80 Prozent der antwortenden Ämter meldeten dieses Problem. Die Platzsuche frisst die Zeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ASD auf und bleibt in manchen Fällen trotz ihres Engagements erfolglos.

"Für uns ist es einfach so, dass wir wirklich betteln müssen, dass diese Kinder dann nicht entweder im Hotel landen oder schlimmstenfalls wir die mit nach Hause nehmen müssen", sagte eine Jugendamtsmitarbeiterin, die ebenfalls anonym bleiben will. Die ARD Story "Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?" gibt ihr und anderen Betroffenen eine Stimme und zeigt, was für Folgen strukturelle Mängel wie diese sowohl für die Sozialarbeiter in den Jugendämtern als auch für hilfsbedürftige Kinder und Familien haben können.

Welche Konsequenzen hat dieser Platzmangel? "Für Kinder ist das ganz schlimm. Es kann passieren, dass die Kinder dann wieder in die Situation nach Hause entlassen werden und das heißt gegebenenfalls, dass sie einer erneuten Gefährdung ausgesetzt sind", erklärt Kerstin Kubisch-Piesk, die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD.

Und tatsächlich: In der WDR-Befragung blieben bei 58 Prozent der Jugendämter wegen fehlender Plätze für die Inobhutnahme schon mal Kinder oder Jugendliche länger als angebracht in ihren Familien. In mehreren Behörden kam es schon vor, dass Minderjährige in den Räumen des Amts übernachten mussten (12 Prozent).

Die aufwändige Suche nach Unterkünften für Kinder und Jugendliche ist zwar der häufigste Grund für die Überlastung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im ASD, aber nicht der einzige. Mehr als die Hälfte der teilnehmenden Jugendamtsleitungen gab bürokratische Pflichten in der Dokumentation als Zeitfresser an.

Leidtragende sind hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche

Leidtragende dieser strukturellen Probleme der Jugendämter sind hilfsbedürftige Kinder- und Jugendliche. Fast die Hälfte der Jugendämter, die auf unsere Umfrage antwortet, sagt, dass bei ihnen nicht das Gefühl besteht, den Kinderschutz unter den aktuellen Bedingungen stets gut gewährleisten zu können.

Mangel an Personal, Geld oder Unterkünften - in 15 Prozent der antwortenden Ämter ist es wegen solcher Probleme sogar zu einer Gefährdung von Kindern und Jugendlichen gekommen. "So wie es gerade läuft, läuft es nicht mehr lange, bevor dieses ganze System zusammenbricht und noch mehr Kinder zu Schaden kommen als ohnehin schon", erzählt eine Jugendamtsmitarbeiterin, die anonym bleiben möchte.

Die WDR-Befragung der Jugendämter fand im Sommer 2024 statt. Angeschrieben wurden die Leitungen von insgesamt 580 deutschen Jugendämtern. Den Teilnehmern wurde Anonymität zugesichert. Rückmeldungen erhielt der WDR aus allen Bundesländern, insgesamt lag die Teilnahmequote bei 52 Prozent.

Mehr dazu sehen Sie in der ARD Story Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in der ARD-Story am 08. Januar 2025 um 22:50 Uhr.