Rassismus bei der Polizei "Es braucht noch viel mehr Forschung"
Bei der Polizei gibt es schwierige Arbeitsbedingungen und zum Teil problematische Einstellungen, zeigt eine Studie. Beides gehört aber nicht unbedingt zusammen, sagt der Kriminologe Singelnstein im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Die unter dem früheren Innenminister Horst Seehofer in Auftrag gegebene Polizeistudie wurde im Vorlauf stark kritisiert, weil sie neben den politischen Einstellungen auch Stressfaktoren und Arbeitsbedingungen betrachtet, mit denen Polizistinnen und Polizisten im Dienst konfrontiert sind. Wie sehen Sie das, nachdem nun erste Ergebnisse präsentiert wurden?
Tobias Singelnstein: Man merkt dem Konzept an, dass es vorher einen politischen Prozess gab. Da wurden Dinge in einen Topf geworfen, die wenig miteinander zu tun haben. Dass Belastung und Einstellungen zusammen untersucht wurden, erweckt von vornherein den Eindruck, dass beides zusammengehört.
Es ist großartig, dass es überhaupt so eine groß angelegte Studie gibt, die fast alle Bundesländer einbezieht und auch viele wichtige Fragen stellt. Aber es ist nicht die Rassismus-Studie, die gefordert wurde. Deshalb kann die Studie nur ein kleiner Beitrag sein, wenn wir uns mit dem Rassismus in der Polizei beschäftigen wollen.
tagesschau.de: Sowohl im Vorfeld als auch während der Studie gab es immer wieder Bedenken, Polizistinnen und Polizisten würden unter "Generalverdacht" gestellt. Warum ist das so ein großes Thema?
Singelnstein: Niemand hat große Lust, sich im beruflichen Kontext kontrollieren zu lassen. Das gilt für die Polizei in besonderer Weise, denn viele Polizisten fühlen sich ohnehin schon kontrolliert. In der Polizei müsste noch viel stärker das Selbstverständnis verankert werden, dass es bei einer Organisation, die über so große exekutive Befugnisse verfügt, auch entsprechende gesellschaftliche Kontrolle braucht.
"Arbeitsbedingungen verbesserungswürdig"
tagesschau.de: Als Stressfaktoren werden im Zwischenbericht zum Beispiel fehlende Entscheidungsspielräume bei der Bereitschaftspolizei und Personalmangel in allen Bereichen benannt. Welchen Einfluss hat das auf die Polizeiarbeit?
Singelnstein: Die bisherigen Ergebnisse bestätigen, dass die Arbeitsbedingungen verbesserungsfähig sind - Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Schichtarbeit sind auch wichtige Themen. Das kennt man auch schon aus anderen Arbeiten. Es ist allerdings bisher nicht untersucht, welchen Zusammenhang es mit den anderen Themen der Studie hat.
Ob es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den Arbeitsbedingungen und problematischen Einstellungen gibt, ist schwer zu untersuchen. Das erfordert eine aufwändige Auswertung, die im Zwischenbericht noch nicht enthalten ist.
tagesschau.de: Auch Gewalterfahrungen spielen der Befragung zufolge eine Rolle im Polizeidienst. Innenministerin Nancy Faeser fordert jetzt bessere Hilfsangebote für Polizistinnen und Polizisten, doch dem Zwischenbericht zufolge werden etwa psychologische Beratungen nur zum Teil angenommen. Was könnte helfen?
Singelnstein: Es ist klar, dass es ein herausfordernder Job mit Erfahrungen ist, die schwierig zu verarbeiten sind. In der Polizei gibt es wenig Möglichkeiten, damit umzugehen, wenig Raum für Reflexion und Auseinandersetzung.
Mit dem Selbstbild der Polizei ist es aber auch schwer vereinbar, dass man Hilfsangebote in Anspruch nimmt. Es gibt diese zu wenig, das wird schon lange diskutiert. Trotzdem ist es auch so, dass die Angebote, die es gibt, zu wenig angenommen werden. Das liegt zum Beispiel an einem Männlichkeitsbild, das der Inanspruchnahme von Supervision und Hilfe entgegensteht, weil dies als Schwäche angesehen wird.
"Oft eine verschworene Gemeinschaft"
tagesschau.de: Besonders großer Motivator und Hilfe zur Stressbewältigung sind der Studie zufolge die Kollegialität und der Zusammenhalt unter Polizistinnen und Polizisten. Die Studie weist darauf hin, dass dieser Zusammenhalt von außen aber oft als problematisch angesehen wird, weil er verhindern könnte, dass Missstände aufgedeckt werden. Wie schätzen Sie das ein?
Singelnstein: In jedem beruflichen Zusammenhang gibt es Kollegialität und Zusammenhalt. Aber bei der Polizei sind diese besonders stark ausgeprägt.
Und das ist natürlich ambivalent. Zum einen ist es wichtig, um gut zusammenarbeiten zu können. Aber auf der anderen Seite führt es auch dazu, dass die Polizei oft eine verschworene Gemeinschaft ist, aus der Fehler und negative Dinge nicht nach außen dringen.
tagesschau.de: Stereotype Einstellungen im Polizeidienst werden - insbesondere bei Brennpunktwachen - häufig mit "Erfahrungswissen" begründet. Bestimmte Personengruppen seien demnach besonders auffällig, der Studie zufolge wird etwa von "dem Bulgaren" gesprochen. Welchen Einfluss hat das Erfahrungswissen auf die Einstellung der Beamtinnen und Beamten?
Singelnstein: Das ist eng miteinander verknüpft. Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass sich die problematischen Einstellungen eher im Dienst entwickeln, als dass sie von außen hereingetragen werden. Das bedeutet nicht unbedingt, dass man selbst negative Erfahrungen mit bestimmten Personengruppen gemacht haben muss. Denn dieses Erfahrungswissen wird in der Polizei weitergegeben und tradiert und kann so individuelle Einstellungen prägen.
Wo dieses Wissen Stereotype und Vorurteile enthält, führt es dazu, dass bestimmten Gruppen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Und einer Einzelperson wird dann unter Umständen diese vermeintliche Eigenschaft der Gruppe zugeordnet, unabhängig davon, ob sie sie hat oder nicht.
"Es braucht rassismuskritische Aus- und Fortbildung"
tagesschau.de: Als mögliche Lösungen gegen die Stereotypisierung werden ausreichend Freizeit, interkulturelle Teams und ein befristeter Verbleib in Brennpunktwachen genannt. Wie sehen Sie diese Lösungsvorschläge?
Singelnstein: Damit wird die Idee adressiert, dass es eine Überlastung durch die Erfahrung in Brennpunktwachen gibt. Das kann grundsätzlich passieren und dann können die genannten Maßnahmen einen Baustein darstellen. Aber das ist nur ein Teilaspekt des Problems.
Vor allem braucht es mehr rassismuskritische Aus- und Fortbildung, die diese Themen in den Blick nimmt. Und es müssten dringend mal rassistische Wissensbestände im polizeilichen Erfahrungswissen detailliert unter die Lupe genommen werden.
tagesschau.de: Der Zwischenbericht der Studie weist auch darauf hin, dass die Antworten zumindest zum Teil dem entsprechen könnten, was die Befragten für sozial erwünscht halten. Ließe sich das überhaupt verhindern?
Singelnstein: Ganz verhindern kann man es nicht. Es gibt einige methodische Herangehensweisen, um diesen Effekt zu reduzieren. Aber man kann in der empirischen Sozialforschung nie perfekt die Wirklichkeit abbilden, sondern sich dem immer nur annähern.
Was genauso problematisch ist, sind die geringen Rücklaufquoten. An der Onlinebefragung der MEGAVO-Studie haben sich 16 Prozent beteiligt - das heißt, 84 Prozent haben sich nicht beteiligt. Das ist kein repräsentativer Ausschnitt. Man muss annehmen, dass Menschen mit problematischen Einstellungen sich eher weniger beteiligt haben.
"Wir fangen gerade erst an"
tagesschau.de: Sie haben sich selbst in einer Studie der Ruhr-Universität Bochum mit der rechtswidrigen Gewaltanwendung durch Polizeibeamte beschäftigt. Was haben Sie dabei festgestellt?
Singelnstein: Wir haben in unserem zweiten Zwischenbericht auch das Erfahrungswissen in den Blick genommen. Das bezieht sich im Übrigen nicht unbedingt nur auf Personengruppen, sondern es kann sich auch auf Orte beziehen, zum Beispiel wenn diese als besonders gefährlich wahrgenommen werden. Das kann dazu führen, dass Menschen, die sich an solchen Orten aufhalten, besonders von den Beamten in den Blick genommen und unter Umständen auch anders behandelt werden.
Die MEGAVO-Studie bezieht sich stark auf individuelle Einstellungen, die bei Rassismus aber nur einen Teil ausmachen. Die strukturelle Seite des Problems nimmt man auf diese Weise kaum in den Blick. Gerade diese Seite wäre aber besonders wichtig zu untersuchen.
tagesschau.de: Braucht es aus Ihrer Sicht also doch noch eine umfassendere Rassismus-Studie, wie sie bereits mehrfach gefordert wurde?
Singelnstein: Ja. Wir fangen gerade erst an, über das Problem zu reden. Es braucht noch viel mehr Forschung dazu, mit vielen verschiedenen Forschungsansätzen und methodischen Zugängen, um sich so gut wie möglich der Wirklichkeit anzunähern.
Das Interview führte Belinda Grasnick für tagesschau.de.