Ukraine-Krieg und Ostdeutschland "Russland ist Teil der ostdeutschen Identität"
Die Debatten über Waffenlieferungen für die Ukraine stoßen in Ostdeutschland meist auf Ablehnung. Das lässt sich aber nicht allein mit Russlandfreundlichkeit erklären, sagt Politikwissenschaftlerin Sarah Pagung.
Es ist in den vergangenen Monaten immer wieder vorgekommen, dass Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer mit seinen Äußerungen zu Russlands Angriffskrieg in der Ukraine für Schlagzeilen sorgte - und mit seiner Meinung nicht allein war. Von vielen Ostdeutschen erfuhr er Zustimmung, "den Krieg einzufrieren", der Ukraine keine schweren Waffen zur Verfügung zu stellen, sich herauszuhalten. Heraushalten aus einem Konflikt, der nach dieser Auffassung kein deutscher ist und auch nicht werden soll.
Diese Einstellung wird häufig mit Russlandfreundlichkeit gleichgesetzt und mit der DDR-Sozialisierung erklärt. Abwegig sei das nicht, sagt auch die aus Mecklenburg-Vorpommern stammende Politikwissenschaftlerin und Russlandexpertin Sarah Pagung: "Russland ist Teil der ostdeutschen Identität."
Sarah Pagung ist Programmdirektorin für Internationale Angelegenheiten bei der Körber-Stiftung. Zuvor war sie Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sie beschäftigt sich vor allem mit russischer Außen- und Sicherheits- sowie Informationspolitik.
Zwischen Heraushalten und Anti-Amerikanismus
Die Ursprünge liegen Pagung zufolge weit zurück. Vor dem Zweiten Weltkrieg habe sich Deutschland weltpolitisch weder dem Westen noch dem Osten zugeordnet. Das wurde mit der Teilung des Landes hinfällig. Im besetzten Nachkriegsdeutschland habe sich die deutsche Bevölkerung fremdbestimmt gefühlt, es sei ein Antiamerikanismus entstanden. Das sei grundsätzlich kein ostdeutsches Phänomen, doch mit dem steigenden Lebensstandard sei diese Haltung in der Bundesrepublik zunehmend verschwunden. Die Besatzer seien zunehmend als Befreier wahrgenommen worden.
Anders in der DDR - zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Regime sei die Abneigung gegenüber dem fremden Westen hinzugekommen und habe sich über die Jahre in Form von Misstrauen in Politik, Institutionen und Medien verhärtet, erklärt Pagung. Das habe Folgen bis heute. Der Ukraine-Krieg werde nun von Ostdeutschen als Konflikt zwischen Ost und West wahrgenommen. Dass man sich heraushalten möchte, hänge mit dem Umstand zusammen, dass die Verbindung und Identifikation mit dem Westen fehle.
Die Wissenschaftlerin nennt den Begriff Äquidistanz: Man fühle sich weder zum einen noch zum anderen politischen Akteur hingezogen. Mehr als 40 Jahre in einem sozialistischen Regime nach sowjetischen Vorbild zu leben, habe Menschen selbstverständlich geprägt, auch über die Wiedervereinigung hinaus, sagt Pagung. Wenn die eigene Meinungsbildung mit sehr viel Misstrauen gegenüber allen Seiten zusammenhänge, werde man sich am Ende kaum klar auf eine Seite schlagen.
Die ablehnende Haltung im Osten sei also keine Frage von prorussisch oder antiukrainisch, sondern von generellem Vermeiden des Parteiergreifens, sagt Pagung. Man wolle nicht zwischen die Fronten geraten, zwischen Russland und die USA, zwischen Ost und West.
Russland als Identitätsmerkmal
Das Problem reicht aber noch tiefer: Während sich der Lebensstandard im Westen für einen Großteil der Menschen ab der Nachkriegszeit stetig verbessert hat, sah das im Osten anders aus. Die Wiedervereinigung erwies sich entgegen der Wohlstandsversprechen eher als das Gegenteil: Viele Ostdeutsche erlebten die Wende als Zeit der Verluste und Benachteiligung. Sowohl materiell als auch symbolisch habe es eine Abwertung der im Osten lebenden Menschen gegeben, bestätigt Pagung.
Bis heute gibt es eine Unterrepräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen. "Dadurch werden Ostdeutsche in ihrer Identität herausgefordert und versuchen, dem etwas entgegenzusetzen, sie aufzuwerten" - unter anderem mit dem vermeintlichen Wissen über Russland und Osteuropa, erklärt die Wissenschaftlerin. In diesem Fall nähmen Ostdeutsche keine rein außenpolitische Position ein, sondern sähen Russland als Teil ihrer ostdeutschen, von der DDR geprägten Identität. Das Ergebnis sei die Verteidigung Russlands - und damit auch die Verteidigung der eigenen Identität. Russland werde zur Projektionsfläche für die Unzufriedenheit im eigenen Land.
Das Bild der Sowjetunion
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, sagte im Interview mit dem MDR, er verstehe die Ostdeutschen und ihre Zurückhaltung beim Thema militärische Hilfen nicht. "Wenn wir um Waffen bitten, geht es um Verteidigung", so Makeiev. Kämpfen und verteidigen könne man sich aber nur, wenn man Waffen habe. Wer Waffen ablehne, lasse die Menschen in der Ukraine sterben, erklärte der Botschafter. Die Ukraine könne es sich nicht leisten, diese Debatte zu führen.
Doch was tun im Umgang mit dem Misstrauen und der Anti-Haltung zu Waffenlieferungen? 40 Jahre Misstrauen bekomme man nicht einfach so aus den Menschen heraus, sagt Pagung. "Es ist ein gesamtdeutsches Problem. Sowohl die Skepsis der Ostdeutschen gegenüber dem Westen als auch die Repräsentation dieser Menschen in unserer Gesellschaft muss sich verändern."
Natürlich müsse man sich aber auch fragen, womit man sich da eigentlich identifiziere. Pagung zufolge liegt dem ein Fehlschluss zugrunde. Bei der Debatte über Russland und seine Politik hätten die Menschen eigentlich die Sowjetunion im Kopf. Das heutige Russland ist aber weder in seinen Grenzen noch politisch die Sowjetunion. Dementsprechend müssten Identifikationsbilder angepasst und Debatten verändert werden. Doch das sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht die alleinige der Ostdeutschen, sagt die Wissenschaftlerin.