Bundeslagebild Mehr Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern aufgedeckt
Die Zahl behördlich gemeldeter sexualisierter Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen ist 2023 deutlich gestiegen. Drei Viertel der Missbrauchsopfer waren weiblich. In vielen Fällen waren Jugendliche selbst die Täter.
Die Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland haben im vergangenen Jahr stark zugenommen. Der vom Bundeskriminalamt (BKA) vorgestellte Bundeslagebild zu Sexualdelikten basiert auf Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik sowie der US-Organisation National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC), das Hinweisen auf kinder- und jugendpornografische Inhalte im Internet nachgeht.
2023 wurden den deutschen Ermittlern demnach 16.375 Fälle bekannt, in denen Kinder unter 14 Jahren sexuell missbraucht wurden - ein Anstieg um 5,5 Prozent im Vergleich zu 2022. Die Zahl der Fälle, in denen es um Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ging, nahm - vor allem aufgrund zahlreicher Hinweise aus dem Ausland - um 7,4 Prozent auf rund 45.000 Fälle zu.
Drei Viertel der Kinder, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, waren Mädchen, die Täter sind zu 94 Prozent männlich und handeln meist allein. In mehr als der Hälfte aller verzeichneten Fälle kannten Täter und Opfer einander oder gehörten zur selben Familie.
Verbände zum Schutz von Opfern und Betroffenen sexualisierter Gewalt lehnen den Begriff "sexueller Missbrauch" als unzutreffend ab. Das BKA-Lagebild orientiert sich in seiner Wortwahl allerdings bewusst am Wortlaut des aktuellen Gesetzestexts. Darin wird die Straftat als "sexueller Missbrauch" bezeichnet.
Mehr "Selbstfilmer" von Pornographie
In der separat erhobenen Kategorie sexuellen Missbrauchs an Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren stieg die Zahl der Fälle ebenfalls: um 5,7 Prozent auf 1.200 Taten, die Zahl der Opfer um 5,5 Prozent auf 1.277. Auch hier hält das Lagebild fest, dass mehr als drei Viertel der Opfer weiblich und mehr als 90 Prozent der Täter männlich gewesen sind.
Der Bericht weist zudem darauf hin, dass 30 Prozent der Tatverdächtigen selbst Kinder oder Jugendliche waren. Das BKA schreibt dazu, Minderjährige machten häufig im frühen Alter sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen oder Jüngeren und seien sich dabei der Strafbarkeit ihrer Handlungen oft nicht bewusst.
Das trifft demnach insbesondere auf den Bereich Kinder- und Jugendpornografie zu: "Der Anteil minderjähriger Tatverdächtiger betrug im Berichtsjahr knapp 40 Prozent", heißt es im Lagebild. Ein hoher Anteil unter ihnen seien sogenannte "Selbstfilmer", die pornographische Aufnahmen von sich selbst anfertigten und dann etwa auf sozialen Netzwerken hochladen - und damit ein Delikt begehen, denn strafbar sind Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz solcher Inhalte.
Zur Aussagekraft der Kriminalstatistik
Insgesamt wurden für 2023 im Bereich Kinder- und Jugendpornografie laut BKA 45.191 Fälle und 37.464 Tatverdächtige bekannt - den Anstieg in beiden Zahlen gegenüber dem Vorjahr führen die Behörden unter anderem auf das "erneut gestiegene Hinweisaufkommen" zurück.
Zur Bewertung der Zahlen heißt es im Lagebild, aus der polizeilichen Kriminalstatistik ließen sich "nur eingeschränkte Aussagen über das tatsächliche Ausmaß" sexualisierter Gewalttaten an Kindern und Jugendlichen treffen. Die Zahl aufgedeckter Fälle korreliere mit der Intensität in polizeilicher Kontrolltätigkeit und Anzeigeverhalten.
Gewerkschaft fordert mehr Kompetenzen für Polizei
Vonseiten der Polizei werden nach der Vorstellung des Bundeslagebilds mehr rechtliche Kompetenzen bei der Bekämpfung von Kindesmissbrauch gefordert. Den Ermittlerinnen und Ermittler seien oft die Hände gebunden, weil sie einige Ermittlungsinstrumente nicht nutzen dürften, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Alexander Poitz, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Vor allem aus Opfersicht ist das kein haltbarer Zustand."
Die zunehmende Verbreitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im virtuellen Raum verlange eine sofortige Einigung der Regierungskoalition auf eine praxistaugliche Mindestspeicherung von IP-Adressen, sagte Poitz. Mit dem momentan vom Bundesjustizministerium favorisierten "Quick-Freeze-Verfahren", also dem Speichern und Sichern von Kommunikationsdaten für einen bestimmten Zeitraum, sei keine Verbesserung zu erwarten.
Derzeit stünden Ermittler oft vor der Herausforderung, dass Daten, die zu den Tätern führen könnten, bei den Providern gar nicht mehr vorhanden seien, so Poitz: "Wir müssen die Täter identifizieren, bekommen dazu aber nicht die richtigen Möglichkeiten." Poitz forderte zudem den Einsatz KI-basierter Ermittlungstechnik. Angesichts riesiger Datenmengen, die ausgewertet werden müssten, könne die Arbeit effizienter gestaltet werden.