Mehrere Busse tragen ein Schild mit der Aufschrift "Streik".

Bahn, Lufthansa und ÖPNV Streikland Deutschland?

Stand: 02.04.2024 15:39 Uhr

In den vergangenen Wochen standen Busse, Bahn und Flugzeuge immer wieder still. Viele wähnen Deutschland schon auf dem Weg zum Streikland Nummer eins. Wird wirklich mehr gestreikt als früher?

Von Paul Jens, SWR

Gerade rollt, fährt und fliegt wieder alles in Deutschland. Gefühlt eine Ausnahme im Jahr 2024. In den ersten drei Monaten des Jahres ächzte die Öffentlichkeit unter diversen Streiks.

Den Anfang machten die Lokführer der GDL, die mehrfach und tagelang die Deutsche Bahn beinahe lahmlegten. Dann kamen noch das Bodenpersonal der Lufthansa sowie Sicherheitspersonal an Flughäfen dazu, und auch im Öffentlichen Nahverkehr stand immer wieder alles still.

Bei beiden ersteren wurde inzwischen eine Übereinkunft erzielt, während im Nahverkehr eine Einigung in weiter Ferne scheint. In Nordrhein-Westfalen läuft bei ver.di gerade eine Urabstimmung über unbefristete Streiks bei Bussen und Bahnen.

Streikland Nummer eins?

Das Streikjahr 2024 ist also noch nicht vorbei und damit bleibt auch das Gefühl präsent: Deutschland entwickelt sich zu Europas Streikland Nummer eins. Ganz so einfach ist es aber nicht.

Die in letzter Zeit oft aufgemachten Vergleiche zwischen den Streikstatistiken von verschiedenen Ländern sieht Clemens Höpfner kritisch. Er forscht an der Universität Köln zu Tarif- und Arbeitskampfrecht und erklärt im Gespräch mit tagesschau.de, die Bundesagentur schreibe selbst in ihrem jährlichen Bericht: "Diese Zahlen können nicht verglichen werden. Die Zählweise ist in den verschiedenen Staaten einfach völlig unterschiedlich."

In Frankreich, das im internationalen Vergleich ganz oben steht, werden beispielsweise auch politische Streiks mitgezählt. Wenn also Teile der Bevölkerung gegen ein höheres Renteneintrittsalter auf die Straße gehen, findet das auch den Weg in die Streikstatistik. In Deutschland würde das stattdessen als politische Demonstration gewertet.

Mehr Streiks als in Österreich und der Schweiz

"Ich würde davon Abstand nehmen, uns mit Frankreich zu vergleichen, allein schon aufgrund der politischen Streiks", sagt Höpfner. "Wir können aber zum Beispiel die Schweiz oder Österreich zum Vergleich nehmen, wo wir eine ähnliche tarifvertragliche Rechtsordnung haben. Und dann sehen wird, dass wir in Deutschland 18 Mal so viele Streiktage wie in Österreich und der Schweiz haben."

Zumindest im Durchschnitt der vergangenen Jahre wird also durchaus oft gestreikt in Deutschland. Und was ist mit den ersten Monaten 2024?

"Was die gefühlte Mehrbelastung durch Streiks in letzter Zeit angeht, ist die Ursache aus meiner Sicht ganz klar darin begründet, dass wir jetzt vor allem massive Streiks in der Verkehrsbranche haben", sagt Höpfner. "Das ist etwas anderes, als wenn der Einzelhandel streikt und diese Streiks dort kaum Auswirkungen auf die Versorgung haben. Üblicherweise merkt das die Kundschaft gar nicht." Amazon etwa werde seit mehr als elf Jahren immer wieder bestreikt ohne große Auswirkungen.

Was sagen die Statistiken?

Ist das gefühlte Mehr an Streiks also nur eine verzerrte Wahrnehmung? Empirisch lässt sich das schwer nachweisen. Weder für 2023 noch für die ersten Monate 2024 liegen verlässliche Daten vor.

Die Streikstatistik der Arbeitsagentur sowie die Tarifstatistik der Hans-Böckler-Stiftung, die beiden in Deutschland oft zitierten Quellen, haben ihre Schwächen. Denn beide Veröffentlichungen zählen vor allem absolute Streiktage beziehungsweise "arbeitskampfbedingte Ausfalltage". Nicht erfasst werden hingegen die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit oder die wirtschaftlichen Schäden durch Streiks.

Clemens Höpfner macht dazu ein Beispiel auf: "Wir haben Streiks am Frankfurter Flughafen, einmal von Reinigungskräften und das andere Mal von Tower-Fluglotsen. Wenn Tower-Fluglotsen streiken, dann reicht es, wenn vier oder fünf Fluglotsen den Dienst verweigern. Dann fliegt kein Flugzeug mehr. Es bräuchte ein Vielfaches an Reinigungskräften, um denselben Effekt zu erzielen." Trotzdem würde sich ein Streik der Reinigungskräfte stärker in den Streikstatistiken niederschlagen. Allein schon, weil es mehr Reinigungskräfte gebe.

Konfliktintensität statt Streiktagen

Um eine bessere Vergleichbarkeit zwischen Staaten aber auch zwischen einzelnen Jahren in Deutschland zu schaffen, plädiert Höpfner dafür, die Konfliktintensität als Größe zu nutzen. Statt Ausfalltagen wäre dann zentral, welche Eskalationsstufe ein Tarifkonflikt erreicht. Eintägige Warnstreiks mit geringer Auswirkung auf die Öffentlichkeit hätten dann weniger Gewicht als eine Urabstimmung über unbefristete Streiks. Das Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlicht seit einigen Jahren einen entsprechenden Bericht.

"Was diese Konflikteskalation angeht, sind wir 2023 sogar über dem Jahr 2015, das wir eigentlich als Superstreikjahr ansehen", sagt Clemens Höpfner. "Das Gefühl in der Bevölkerung trügt also nicht: Es kommt vermehrt zu Streiks und vor allem auch zu Ausfällen, zu spürbaren Ausfällen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. März 2024 um 06:50 Uhr.