Extremismus im Netz "Wir brauchen eine stärkere Regulierung"
TikTok steht in der Kritik, radikale Inhalte unter Jugendlichen zu verbreiten. Extremismusexperte Coquelin fordert im Interview mehr Schutz für junge Menschen im Netz. Plattformen müssten in Haftung genommen werden.
tagesschau.de: Herr Coquelin, ist Ihrer Meinung nach die Demokratie durch Einflüsse aus dem Netz, insbesondere der sozialen Medien, in Gefahr?
Mathieu Coquelin: Definitiv. Ich glaube, die sozialen Medien schaffen eine eigene Realität. Und eine Demokratie, die im Prinzip den Streit um die richtigen Antworten braucht, braucht eben objektive Fakten, auf die man sich im Streit beziehen kann. Außerdem haben wir in den sozialen Medien einen Ort, an dem auch Hass so ein Stück weit von den Algorithmen als Emotion bevorzugt wird.
tagesschau.de: Algorithmen sind was?
Coquelin: Algorithmen sind im Prinzip die Sortiermaschine, die im Hintergrund für uns die Informationen vorauswählt. Sie tun das aufgrund der Dinge, die wir vielleicht schon konsumiert haben und wollen uns damit auf dieser Plattform halten. Ein Algorithmus versucht uns prinzipiell das anzubieten, was uns gefällt.
Mathieu Coquelin leitet seit 2015 die Fachstelle Extremismusdistanzierung in Baden-Württemberg. Von 2017 bis 2019 leitete er zusätzlich das Modellprojekt Da.Gegen.Rede zur Stärkung junger Menschen im Umgang mit Hass im Netz und seit 2020 ein Forschungsvorhaben zu Radikalisierungsprävention in Kooperation mit der Dualen Hochschule Baden‐Württemberg.
tagesschau.de: Warum sind konkret Jugendliche durch die sozialen Medien, durch den digitalen Raum, besonders gefährdet?
Coquelin: In der Lebensphase Jugend sind natürlich verschiedene Themen interessant, die Jugendliche beschäftigen. Und wir erleben, dass dort Deutungsangebote gemacht werden, beispielsweise: Was ist deutsch? Was ist muslimisch?
Die Deutungsangebote, die eben derzeit angeboten werden, da müssen wir realistisch sein, kommen nicht aus dem Bereich der politischen Bildung und nicht aus dem Bereich der demokratischen Parteienlandschaft. Dort haben radikale Akteure gerade Oberwasser.
tagesschau.de: Was sind die Protagonisten bei diesen extremen Inhalten? Sind es neben islamistischen vermehrt links- oder rechtextreme Inhalte?
Coquelin: Ich kann Ihnen nur Einblick geben, was bei uns an Anfragen eingeht. Und da spielt Linksextremismus, also tatsächlich eine Ideologie, bei der jemand den Staat nach kommunistischem Vorbild umschmeißen will, seltener eine Rolle. Was wir haben, ist linke Militanz, das heißt Verächtlichmachung der Polizei, eine Abwertung der Polizei.
Im Bereich des Rechtsextremismus spielt oder spielen einzelne Vertreter und Vertreterinnen der AfD eine Rolle. Meistens mit vermeintlich normaleren Themen oder den Themen, bei denen es eher schon ein gewisses Vorwissen brauche, um die Inhalte es als Rechtsextremismus identifizieren zu können. Beispielsweise hat Alice Weidel eine große Reichweite und sorgt dann dafür, dass sie gar nicht selber die rechtsextremen Inhalte postet.
Aber die Algorithmen verknüpfen dann die Themen und die Hashtags miteinander - und dann führt der Hashtag dazu, dass ich die anderen grenzüberschreitenden Informationen auch bekomme und dass dann eine Deutungshoheit über Begriffe erzeugt wird.
tagesschau.de: Warum ist das Netz für Extremisten so attraktiv?
Coquelin: In dem Augenblick, in dem ich bestimmte Themen setzen möchte oder einem Thema vielleicht meinen Spin mitgeben möchte, möchte ich, dass die Menschen möglichst meine Inhalte bekommen.
Wenn sie zum Beispiel nach dem Islam suchen, nach Deutschland suchen, nach Männlichkeit suchen, nach LSBTIQ suchen, nach Gender suchen, dann versuche ich möglichst viele Inhalte dort zu setzen und schaue dann, dass diese eben nicht möglichst differenziert, nicht möglichst sachlich-nüchtern ankommen. Ich muss sie dort über Desinformation transportieren, über Verächtlichmachung, und sie müssen einfach konsumierbar sein.
tagesschau.de: Jetzt könnte man natürlich sagen: Das könnten die demokratischen, gemäßigten Parteien und Institutionen auch machen.
Coquelin: Also ich glaube, was demokratische Akteure machen könnten, wäre ebenfalls mit positiv behafteten Symbolen arbeiten, mit positiven Werten in das Netz gehen und diese dort zu transportieren. Das funktioniert allerdings nicht in dem Augenblick, in dem wir diese vorhin schon beschriebenen Algorithmen annehmen. Sie haben die Eigenschaft, starke Emotionen wie Hass zu begünstigen. So kann ich eben nicht in Konkurrenz treten mit jemandem, der kein Problem damit hat, bestimmte Bevölkerungsgruppen abzuwerten. Da sehe ich wenig Möglichkeiten, auf dieser Ebene zu konkurrieren.
tagesschau.de: Würden Sie sagen, damit überlässt man den Extremisten das Feld?
Coquelin: Definitiv.
tagesschau.de: Kann man denn durch Regulierung dieser Radikalisierung im Netz entgegenwirken?
Coquelin: Ich glaube, dass wir erst mal viel gewinnen würden, wenn geltende Gesetze auch in den sozialen Medien zur Anwendung kämen und Plattformen in Haftung genommen werden. Das muss sich ändern.
Das Gespräch führte Martin Rottach, SWR.