Bundesverfassungsgericht Was die Triage-Entscheidung bedeutet
Die Karlsruher Entscheidung zur Triage war nicht unbedingt zu erwarten. Was aber bedeutet sie? Was muss sich nun konkret ändern? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie begründen die Richterinnen und Richter ihren Beschluss, dass die Rechtslage zur Triage derzeitig verfassungswidrig ist?
Als verfassungswidrig wird gewertet, dass es bisher keine gesetzliche Regelung gibt, nach welchen Kriterien eine Triage abzulaufen hat. Der Staat habe eine Pflicht zum Schutz von Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung, außerdem müsse er das höchste Rechtsgut überhaupt, das Leben, schützen. Gerade in einer Situation wie der Corona-Pandemie, in der Intensivbetten und Beatmungsgeräten knapp sind, müsse der Gesetzgeber für rechtliche Sicherheit sorgen, damit Menschen mit Behinderung bei der Entscheidung, ob sie versorgt werden, nicht benachteiligt werden. Diese Schutzpflichten würden sich aus dem Grundgesetz ergeben, so das Gericht - und die habe der Gesetzgeber verletzt.
Als Triage wird in der Medizin eine Methode bezeichnet, nach der in Notlagen oder Pandemien ausgewählt wird, wer zuerst versorgt wird. Dabei kann zum Beispiel die Überlebenschance eine Rolle spielen. Das Wort Triage stammt vom französischen Verb "trier", das "sortieren" oder "aussuchen" bedeutet.
Der Begriff wurde ursprünglich von der Militärmedizin geprägt, wird inzwischen aber auch in der Notfallmedizin oder dem Zivilschutz verwendet. Im militärischen Kontext ging es auch darum, die Soldaten zuerst zu behandeln, die man schnell wieder kampffähig machen konnte.
Wenn es kein Triage-Gesetz gibt, was galt dann bisher?
Bisher gibt es nur klinisch-ethische Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften, welcher Covid-19-Patient ein Bett oder eine Beatmungsmaschine bekommt und wer zunächst nicht. Maßgeblich sei, wer nach ärztlicher Untersuchung die bessere Erfolgsaussicht habe. Das Grundgesetz verbietet, den Lebenswert von Kranken mit dem von Gesunden abzuwägen, ebenso darf niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden.
Haben die Verfassungsrichter das nur rechtlich begründet oder haben sie auch Einblick in die Wirklichkeit von Kliniken genommen?
Sie haben bei Facheinrichtungen und Sozialverbänden sachkundigen Rat eingeholt. Das Gericht sieht Anhaltspunkte, dass in einer Triage-Situation, in der es um Leben und Tod geht, Menschen mit Behinderung nicht ausreichend geschützt sind. Im Gegenteil bestehe für sie das Risiko, wegen ihrer Behinderung sachlich falsch, auch unbewusst stereotyp beurteilt zu werden. Weil man ihnen aufgrund ihrer Erkrankung schlechtere Genesungschancen zugestehe, könnten ihnen Nicht-Behinderte in der Intensiv-Versorgung vorgezogen werden.
Auch die fachlichen Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (Divi) schlössen das Risiko der Benachteiligung nicht aus. Sie könnten sogar zum Einfallstor für Benachteiligung werden: Zum einen seien die Hinweise rechtlich nicht verbindlich, zum anderen gelte etwa schon Gebrechlichkeit als negatives Kriterium für die Erfolgsaussichten der Genesung und könnte eine Behandlung ausschließen.
Sagt das BVerfG, was der Gesetzgeber konkret tun muss?
Karlsruhe fordert den Gesetzgeber auf, möglichst wirkungsvoll etwas dagegen zu tun, dass Menschen mit Behinderung in der Triage benachteiligt werden. Berlin habe dabei zwar einen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht will sich nicht als Ersatzgesetzgeber aufspielen - Stichwort Gewaltenteilung. Aber ein paar allgemeine Tipps hat das Gericht doch: Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden. Deshalb soll ein Mehraugenprinzip bei der Entscheidung gelten, wer zuerst versorgt wird, damit die Entscheidung nachvollziehbar ist. Das wird wohl aber auch schon jetzt gemacht. Aus demselben Grund soll es eine Dokumentation des Vorgangs geben. Hinterbliebene haben dann die Möglichkeit, die Triage-Entscheidung nachzuvollziehen. Der Gesetzgeber könnte die Unterstützung vor Ort regeln. Und: Schon im Vorfeld soll medizinisches und Pflegepersonal gut ausgebildet und gut weitergebildet werden.
Der Gesetzgeber soll die Vorkehrungen laut der Entscheidung des Gerichts "unverzüglich" treffen, die Parlamentspause endet allerdings erst am 10. Januar. Was bedeutet unverzüglich hier genau?
Damit macht das BVerfG nur deutlich, dass das Problem dringlich ist, dass die Untätigkeit des Gesetzgebers bis jetzt aufhören muss. Und dass die Zeit auch wegen der neuen Omikron-Variante drängt. Wenn die Krankenhäuser volllaufen, dann wäre es schlicht zu spät.
Ist für die Klägerinnen und Kläger diese Entscheidung ein Erfolg?
Die Entscheidung war durchaus nicht zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hält sich wegen der Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative gern zurück, wenn es in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers eindringen könnte. Dass die Roten Roben dennoch den Gesetzgeber auffordern zu handeln, weil die Richtlinien der medizinischen Fachgesellschaften nicht ausreichen, weil Menschen mit Behinderung benachteiligt werden und in der Folge sterben könnten, ist ein deutliches, ein mutiges Signal aus Karlsruhe.
Aktenzeichen: 1 BvR 1541/20