Das ukrainische Mädchen Ann übt mit einem anderen Mädchen in einer Industriehalle in Zeitz.
Reportage

Projekt in Sachsen-Anhalt Viel mehr als ein Zirkus

Stand: 30.04.2023 12:29 Uhr

Radschlagen, Kopfstand, Jonglieren: In der alten Industriehalle in Zeitz herrscht Zirkusatmosphäre. Doch "Circus Upsala" ist kein normaler Zirkus. Hier üben Kinder aus der Ukraine mit Artisten aus Russland.

Von Julia Cruschwitz und Matthias Pöls, MDR

Die braunen Augen des Mädchens folgen drei rotierenden Plastikbällen. Ann übt zu jonglieren. Die zwölfjährige Ukrainerin hockt auf einer Turnmatte in einer alten Industriehalle in Zeitz. Über ihr steht in einem schwarzen Kreis mit verschnörkelten weißen Buchstaben "Circus Upsala". Der stammt ebenso wie die Artisten aus Russland, und die trainieren inzwischen vor allem ukrainische Geflüchtete in der Stadt in Sachsen-Anhalt - in der noch immer vieles brachliegt.

Der graue Putz der Außenwand bröckelt, doch in der Halle strahlen die Wände weiß, teils sind sie mit rohen Fichtenbrettern vertäfelt. Davor hängen Einräder, liegen Springseile und steht eine Musikanlage. Die Trainingsstätte haben die Zirkus-Leute selbst renoviert. Der "Circus Upsala" hat seinen Sitz eigentlich in St. Petersburg. Dort lernen derzeit rund 150 Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen unter anderem Akrobatik. Es ist ein sozialpädagogisches Projekt.

Larisa Afanaseva

Zirkuschefin Larisa Afanaseva hat große Pläne.

Aus Spenden finanziert

Nach Zeitz reiste die Zirkuschefin mit einigen Kollegen, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Ende Februar 2022. "Für uns war es notwendig zu handeln und einen Ausweg aus dieser Situation zu finden", sagt Larisa Afanaseva. Das Projekt finanziert sich durch Spenden aus der ganzen Welt und ohne Hilfe vom deutschen Staat. Insgesamt 60 Kinder können derzeit in der Halle kostenlos trainieren.

Ein Junge steht Kopf. Während der rot anläuft, zappeln die Beine des Kindes in der Luft. Daneben kniet Goscha, stützt und gibt Tipps auf Russisch. Der junge Artist wollte nie weg aus St. Petersburg. Doch als Wladimir Putin im September 2022 die Teilmobilisierung verkündete, floh er sofort. Er ist unter 35, hat den Wehrdienst absolviert. Nach dem Dekret des russischen Präsidenten wäre er direkt eingezogen worden.

Für Goscha eine furchtbare Vorstellung, denn seine Eltern sind Ukrainer. Er hat als Kind jeden Sommer dort verbracht. Für den Trainer war es auch schwer, die Kinder des "Circus Upsala" in St. Petersburg zu verlassen, mit denen er jahrelang gearbeitet hatte und für die er eine wichtige Bezugsperson war. "Vor einem Jahr hätte ich gedacht, dass ich bleibe. Aber wenn es darum geht, ob ich meine Brüder töte oder meine Leute im Stich lasse, da habe ich mich für das Zweite entschieden."

Goscha

Goscha floh aus Russland, weil er nicht in Putins Krieg wollte. Seine Eltern sind Ukrainer.

Einreise aus Kasachstan mit humanitärem Visum

Hundertausende junge Russen sind geflohen, um nicht in den Krieg zu müssen. Goscha ging ins Nachbarland Kasachstan. Er beantragte bei der dortigen deutschen Botschaft ein humanitäres Visum. Das wird Menschen ausgestellt, die aufgrund ihres Einsatzes gegen den Krieg, für Demokratie und Menschenrechte gefährdet sind. So ein Visum haben allein im vergangenen Jahr 630 Menschen aus Russland bekommen, wie das Auswärtige Amt auf MDR-Anfrage mitteilt. 2023 sind es nach knapp 3,5 Monaten bereits 360. Im Jahr vor dem Krieg wurden weniger als zehn humanitäre Visa an Russen ausgestellt.

Nach einem halben Jahr erhielten Goscha und weitere Zirkusartisten die Visa. Sie gelten bis zu drei Jahren. Erst vor wenigen Tagen ist Goscha in Deutschland angekommen. Inzwischen geht er davon aus, nie wieder in seine Heimat zurückzukehren, obwohl er seine Frau und sein sechsjähriges Kind in Russland zurücklassen musste. Er hofft, dass er sie bald nachholen kann.

Krieg in den Köpfen

Die Kinder, mit denen Goscha inzwischen Purzelbäume, Radschlagen oder Balancieren übt, sind hauptsächlich ukrainische Geflüchtete. "Wir reden mit den Kindern über unsere Positionen", erzählt Afanaseva. "Ganz ehrlich sprechen wir über unseren Schmerz, unsere Kritik und unseren Hass auf den Krieg." Es seien wichtige Gespräche. Doch den Jungen und Mädchen müsste auch Raum und Zeit gegeben werden, Kinder zu sein, so die 47-Jährige.

Ann hüpft auf den Rücken eines anderen Mädchens. Das läuft mit ihr Huckepack ein paar wackelige Schritte, dann fallen sie zusammen auf eine der blauen Matten und kichern. Ann ist mit ihren Eltern aus Kiew geflohen und seit Beginn des Zirkusprojektes in Deutschland dabei. "Es spielt keine Rolle, woher sie kommen", sagt sie über ihre Trainer aus Russland. "Das Wichtige an einem Menschen ist ja nicht die Nationalität, es ist die Seele."

Inzwischen haben sich auch einige der ukrainischen Eltern mit den Trainern ihrer Kinder angefreundet - es war kein leichter Prozess. "Sie bestätigen uns jedes Mal: Die russische Regierung ist böse", sagt eine Mutter. Immer wenn sie Zweifel habe, rede sie mit den Artisten. "Sie sagen dann immer wieder: Es ist furchtbar und sie sind selbst vor dem Krieg und der schrecklichen Regierung geflohen. Sie sind also auch Geflüchtete aus ihrem eigenen Land, das ihre Heimat war."

Außenansicht einer zerfallenen Industriehalle in Zeitz

Bis heute kämpft Zeitz mit den Folgen des Strukturwandels.

Zeitz und die harten Folgen der Wende

Nun findet der "Circus Upsala" offenbar eine zweite Heimat. Bereits in den Jahren vor Ausbruch des Krieges ist er regelmäßig für Auftritte und Projekte in Deutschland gewesen. Schon damals kam die Idee einer Zweigstelle auf. Afanaseva suchte eine große soziale Herausforderung - über einen deutschen Freund kam sie schließlich auf Zeitz.

Die Stadt liegt am südlichen Rand von Sachsen-Anhalt und hat nach der Wende eine heftige Deindustrialisierung erlebt. Viele Betriebe machten dicht, mehr als ein Drittel der Einwohner zog weg. Die Arbeitslosenquote lag zeitweise bei weit mehr als 20 Prozent. Bis heute kämpft Zeitz mit den Folgen des Strukturwandels.

Nun hat der "Circus Upsala" große Pläne für die kleine Stadt. Ein Zentrum für Zirkuspädagogik soll in einer alten Industriehalle entstehen. Hinter verblassenden roten Backsteinen, zerschlagenen Scheiben und einem rostigen Tor verbirgt sich ein gut 200-Quadratmeter großer Raum mit glattem Betonboden. "Für mich ist das eine gute Halle für das Training", sagt Afanaseva. Die Halle könnte günstig erworben werden.

In einer größeren Halle nebenan könnte in Kooperation mit anderen eine Veranstaltungsstätte geschaffen werden. "Ich glaube, das ist für uns eine gute Chance, hier einen Hot-Culture-Point zu schaffen", gerät die Chefin ins Träumen. Sie ist überzeugt, dass davon ganz Zeitz profitieren würde. Die Sanierung der Halle würde voraussichtlich mehrere Millionen Euro kosten, trotzdem glaubt Afanaseva an das Projekt.

Christian Thieme

Bürgermeister Thieme hofft, dass der Zirkus bleibt.

Ein Zirkus als große Hoffnung für eine kleine Stadt

"Ich hoffe, dass sich dieser Zirkus in Zeitz niederlässt", sagt Bürgermeister Christian Thieme (CDU). In der Stadt stehen trotz zahlreicher Abrisse von Plattenbauten und auch Gebäuden in Gründerzeitvierteln noch immer 23 Prozent der Wohnungen leer, insgesamt 5000. Da hat schon der Zuzug von bisher 1200 Geflüchteten aus der Ukraine geholfen.

"Es gibt mehr Menschen, die Miete zahlen. Das ist ja für viele auch ein wichtiger Aspekt", so Thieme. Auch wenn es Menschen gebe, die es aufgrund von in Anspruch genommenen Sozialleistungen, kritisch sehen, überwiegt für den Christdemokraten das Positive: "Es zeigt die Verantwortung Deutschlands in Europa, und dass wir eben auch bereit und in der Lage sind, Flüchtlinge zu beherbergen."

Hinzu kommt: Thieme sieht den Zirkus als Basis für die Zukunft, der die Stadt bereichere und belebe. Deshalb habe sich Zeitz auch per Unterstützerschreiben beim Auswärtigen Amt um die Erteilung der Visa für die Artisten bemüht, damit mehr Kinder vom Training profitieren könnten. Künftig sollen nach dem Willen aller Beteiligten aber neben ukrainischen Geflüchteten auch mehr Geflüchtete aus anderen Ländern und weitere deutsche Kinder turnen und jonglieren lernen - am besten in alten, aber sanierten Hallen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete "Exakt" im MDR am 26. April 2023 um 20:15 Uhr.