Flutnacht im Ahrtal Der Innenminister und die Polizeivideos
Nach der Veröffentlichung von Polizeihubschrauber-Aufnahmen aus der Flutnacht im Ahrtal gerät der rheinland-pfälzische Innenminister in Erklärungsnot. Sind sie ein Beleg, dass Lewentz falsch gehandelt hat?
Für den Innenminister von Rheinland-Pfalz war es der Versuch eines Befreiungsschlags. Seitdem vor elf Tagen im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags Videos aus der Flutnacht gezeigt worden waren, steht Roger Lewentz erheblich unter Druck. Bislang hatte der Innenminister und oberste Katastrophenschützer von Rheinland-Pfalz stets argumentiert, er habe in der Nacht der Flut kein umfassendes Lagebild gehabt, sondern nur punktuelle Informationen.
Außerdem hatte der SPD-Landespolitiker regelmäßig auf die Zuständigkeit des Kreises im Katastrophenschutzfall verwiesen. Durch die vor Kurzem aufgetauchten Aufnahmen eines Polizeihubschrauber stellen sich viele Fragen an Lewentz.
Das ganze Ausmaß der Katastrophe
Auf den Bewegtbildern, die zwischen 22:14 Uhr und 22:42 Uhr aufgenommen wurden, ist das dramatische Ausmaß der Flutkatastrophe deutlich zu erkennen. Die Videos zeigen Häuser, die bis zum Dachgeschoss unter Wasser stehen, Ortsteile die großflächig überflutet sind. Lichtzeichen von Menschen, die auf Dächern, Balkonen und an Fenstern auf sich aufmerksam machen.
Auf den Aufnahmen sind auch Warnlichter von Rettungskräften zu erkennen. Noch Stunden, nachdem diese Bilder von den Ahrtal-Gemeinden Schuld bis Mayschoß aufgenommen wurden, sind Menschen weiter flussabwärts ertrunken, weil sie nicht ausreichend gewarnt wurden.
Gesuchte Öffentlichkeit
Nach Tagen der Kritik und Rücktrittsforderungen von Seiten der Opposition, ging der Innenminister in die Offensive. Lewentz suchte gezielt die Öffentlichkeit. Kurzfristig lud er Medienvertreter ins Innenministerium, legte seine Sicht der Situation in der Flutnacht ausführlich dar. Und er veranlasste die Veröffentlichung der zunächst als vertraulich eingestuften Hubschrauberaufnahmen, nachdem dort Personen und Ortsangaben unkenntlich gemacht worden waren.
Lewentz hat eine Botschaft, die er aussenden will. Er argumentiert nach wie vor, sein Lagebild in der Nacht sei ein anderes gewesen als in den Tagen danach. Er habe die Bewegtbilder aus der Flutnacht bis vor Kurzem auch nicht gekannt; ihm hätten in der Nacht nur wenige Fotos vorgelegen.
Wie der Minister dann weiter argumentiert, ist zumindest bemerkenswert. Er wolle nicht gefühlskalt klingen, aber: "Auf diesen Filmen sind keine eingestürzten Häuser, nicht die weggerissenen Brücken, nicht die zerstörte Bahnlinie. Also nicht das, was wir dann im Hellen an schrecklicher Verwüstung in dem Tal feststellen mussten."
"Hätte keine andere Hilfsmöglichkeit gehabt"
Er habe gewusst, dass es ein Hochwasser geben würde, aber er erkenne auf den Aufnahmen keine Sturzflut - nicht die Katastrophe mit 134 Toten, wie sie in den Tagen darauf deutlich geworden sei. Lewentz erklärt außerdem, dass es wohl auch nichts geändert hätte, wenn er die Videos in der Nacht gesehen hätte. "All das, was von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Bundeswehr, Rettungsdienstorganisationen, der DLRG und vielen anderen in den Einsatz geführt wurde, ich hätte keine andere Hilfsmöglichkeit gehabt."
Auch einem Innenminister sei es nicht möglich, bei schlechten Wetterverhältnissen einfach so per Knopfdruck weitere Hubschrauber zu besorgen.
"Fehl am Platz"
Die Opposition überzeugen die vom Innenminister vorgebrachten Argumente nicht. Christian Baldauf, der Vorsitzende der CDU-Fraktion, gibt sich schockiert über die Erklärungen: "Was hat dieser Minister für ein Amtsverständnis?"
Lewentz' Worte seien zynisch und ein Schlag ins Gesicht all derer, die Angehörige in der Katastrophe verloren hätten. "Wer solche Videos nicht als Handlungsaufforderung begreift, ist fehl am Platz. Lewentz hat alles Vertrauen verspielt", kritisiert Baldauf und fordert weiterhin den Rücktritt des Innenministers.
"Nicht nachvollziehbar"
Wenn er nicht den Anstand finde, selbst zurückzutreten, müsse die Ministerpräsidentin Konsequenzen ziehen. Auch die AfD hält einen Rücktritt von Lewentz für überfällig. "Die gestrigen Aussagen des Innenministers sind nicht dazu geeignet, ihn zu entlasten. Im Gegenteil: Angesichts einer auf den Videos klar erkennbaren reißenden Flut immer noch von einem Hochwasser zu sprechen, zeugt von völliger Inkompetenz und Ignoranz", so die Kritik von Michael Frisch, dem Vorsitzenden der AfD-Fraktion im Mainzer Landtag.
Auch die Freien Wähler halten die Argumentation des Innenministers für unglaubwürdig. "Die Einschätzung von Roger Lewentz, dass diese Videos nicht als Beleg für eine Katastrophe angesehen werden können, ist für mich absolut nicht nachvollziehbar", erklärt Stephan Wefelscheid. Denn man sehe doch deutlich in den Videos - und dies nicht nur an einer Stelle an der Ahr, sondern an mehreren Stellen der Ahr -, dass Menschen verzweifelt an den Fenstern stehen und um Hilfe flehten.
Dreyer hält an Lewentz fest
Rückendeckung bekommt der Sozialdemokrat Lewentz aus den eigenen Reihen. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz Malu Dreyer, ebenfalls SPD, hält trotz der Kritik an ihrem Minister fest. "Nach wie vor steht die Ministerpräsidentin hinter ihrem Minister", teilt die Staatskanzlei dem SWR mit. Dreyer vertraue dem Innenminister.
Innenminister Lewentz selbst lehnte im SWR einen Rücktritt ab. Er betonte, er sehe es als seine Aufgabe an, den Wiederaufbau im Ahrtal voranzutreiben.
Polizei räumt Versäumnisse ein
Dass die Aufnahmen des Polizeihubschraubers erst mehr als ein Jahr nach der Flutkatastrophe auftauchen - dafür übernimmt die Polizei die Verantwortung. Gleich zwei Polizeipräsidenten sind bei dem kurzfristig anberaumten Pressegespräch des Innenministers anwesend und räumen Versäumnisse bei der Weitergabe der Videos ein. Wegen eines Dokumentationsfehlers bei der Polizei seien die Aufnahmen innerhalb der Behörden gewissermaßen verschwunden.
Für die Einsatzkräfte habe die lückenlose Dokumentation in der anstrengenden Flutnacht keine Priorität gehabt und sei auch nachträglich nicht erfolgt, bedauert Christoph Semmelrogge, Polizeipräsident für Einsatz, Logistik und Technik. Er versichert, es sei keine Absicht gewesen. Später sei eine Sicherheitskopie mit den Videos aufgetaucht und auf Anfrage in den Untersuchungsausschuss des Landtags gelangt.
Auch der Staatsanwaltschaft Koblenz, die wegen der Flutkatastrophe im Ahrtal ermittelt, liegen die Videos erst seit der vergangenen Woche vor. Derzeit werden Angehörige der Hubschrauberstaffel durch die Staatsanwaltschaft befragt. Mitte Oktober soll die Hubschrauber-Besatzung dann auch im Untersuchungsausschuss des Landtags aussagen.