Absperrband ist vor farbigen Betonsperren gespannt, die zum Schutz des Magdeburger Weihnachtsmarktes aufgestellt wurden.

Attentäter von Magdeburg Weitere Hinweise auf psychische Erkrankung

Stand: 23.12.2024 15:47 Uhr

Was trieb Taleb A. dazu, mit einem Auto in eine Menschenmenge zu rasen? Die Gründe könnten in einer psychischen Erkrankung liegen. Doch warum wurde den zahlreichen Hinweisen nicht nachgegangen? Der Druck auf Behörden und Politik wächst.

Hätte der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg verhindert werden können? Und was sind die Motive des festgenommenen Attentäters Taleb A.? Zumindest bei der zweiten Frage deuten sich jetzt neue Antworten an. So verdichten sich die Hinweise auf eine gravierende psychische Erkrankung des Täters, wie die Nachrichtenagentur dpa aus Sicherheitskreisen erfuhr.

Auch aus Sicht des Terrorismusforschers Peter Neumann war der Amokfahrer vermutlich psychisch krank. "Ich bin zwar kein Psychiater, aber aus meiner Sicht deutet vieles darauf hin. Er hatte Wahnvorstellungen und fühlte sich verfolgt", sagte Neumann dem Spiegel. Der Mann habe nicht verstanden, "warum ihm 2016 die Ausreise drohte, aber gleichzeitig die - seiner Meinung nach - falschen Flüchtlinge aus islamisch geprägten Ländern in Deutschland aufgenommen wurden".

"Dann nutzen alle anderen Betonpoller nichts"

Der Terrorismusexperte, der am King's College in London forscht, sieht Anzeichen für Wahnvorstellungen: "Seinen Frust projizierte er auf die deutschen Behörden. Bis zu der Wahnvorstellung, Deutschland wolle Europa islamisieren."

Unverständnis äußerte Neumann darüber, dass der Amokfahrer vermutlich eine ungesicherte Zufahrt zum Markt nutzte, die nach Angaben der Stadt Magdeburg als Rettungsgasse diente: "Wenn eine Zufahrt ungeschützt bleibt, nutzen alle anderen Betonpoller nichts. Dabei gäbe es auch für Rettungsgassen Lösungen - etwa ein Auto, das die Zufahrt blockiert und im Notfall weggefahren wird", so der Experte.

Auch der Gerichtspsychiater Reinhard Haller erkennt Anzeichen einer psychischen Erkrankung: "Entweder hat es sich um eine paranoide Persönlichkeitsstörung mit stark fanatischen Zügen gehandelt. Oder es war ein wahnkranker Mensch, jemand, der unter einer überwertigen Idee litt und sein Verhalten danach ausgerichtet hat", sagte er auf tagesschau24.

Verfahren bleibt in Sachsen-Anhalt

Sollte es sich bestätigen, dass der Täter psychisch erkrankt ist, wird es unwahrscheinlicher, dass der Generalbundesanwalt in Karlsruhe die Ermittlungen übernimmt. Denn dieser ist zuständig für Verfahren im Bereich des Staatsschutzes, also der politisch motivierten Kriminalität.

Der Generalbundesanwalt habe die Übernahme des Verfahrens abgelehnt, sagte denn auch Justizministerin Franziska Weidinger (CDU) im Ältestenrat des Landtags in Magdeburg. Das habe Sachsen-Anhalts Generalstaatsanwältin Heike Geyer dem Justizministerium mitgeteilt. Geyer habe angekündigt, dass die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg das Verfahren übernimmt, so Weidinger.

Dennoch stellt sich die Frage, warum die zahlreichen Hinweise zu Taleb A. nicht zu einer dringlicheren Einschätzung führten. Denn der 50-Jährige war spätestens Anfang 2015 auch den zuständigen Bundesbehörden als potenziell Verdächtiger bekannt.

Wie das Innenministerium in Schwerin auf Anfrage mitteilte, informierten Vertreter des Landes Mecklenburg-Vorpommern im von Bund und Ländern getragenen Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum das Bundeskriminalamt am 6. Februar 2015 über mögliche Anschlagsabsichten des aus Saudi-Arabien stammenden Mannes.

Rechtskräftig verurteilt

Dass sich der Täter von Magdeburg bereits in der Vergangenheit auffällig verhalten hat, zeigt laut NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung auch ein Urteil des Amtsgerichts Rostock aus dem Jahr 2014.  Zuerst hatte die Welt darüber berichtet.

Demnach soll Taleb A. damals indirekt eine Drohung ausgesprochen haben. "Haben Sie die Bilder aus Boston gesehen? Sowas passiert dann hier auch", soll er einer Mitarbeiterin der Ärztekammer gesagt haben, nachdem er die Bearbeitung seines Antrages auf Zulassung zur Facharztprüfung kritisierte. Bei einem islamistischen Anschlag in Boston waren 2013 drei Menschen getötet und mehr als 200 verletzt worden.

A. soll der Mitarbeiterin "in ernst zu nehmender Weise" erklärt haben, dass nun "etwas Schlimmes" mit "internationaler Bedeutung" geschehe. Laut Urteil sollen diesem Gespräch mehrere Telefonate, Faxe und E-Mails mit ähnlichem Inhalt vorausgegangen sein. A. hatte damals erklärt, er habe unter "emotionalem Druck" gestanden. Die Worte "Boston-Marathon" habe er jedoch nicht verwendet, die Mitarbeiterin habe seine Worte falsch interpretiert. Das Gericht folgte jedoch der Mitarbeiterin, die nach dem Telefonat auch eine Gesprächsnotiz angefertigt hatte. A. wurde schließlich zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt.

Martin Kaul, ARD Berlin, zu möglichem Motiv des Anschlags in Magdeburg

tagesschau24, 23.12.2024 14:00 Uhr

Aufklärung auch im Bundestag

Im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF kündigte der stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsinnenauschusses, Lars Castellucci, eine schnelle Aufklärung an. Er werde noch im Laufe des Tages eine Sondersitzung des Innenauschusses beantragen.

Dabei sollen die Chefs der Bundesbehörden, aber unter anderem auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser befragt werden, so der SPD-Politiker. "Es muss nun minutiös nachvollzogen werden, warum wir da nicht vorher haben wachsam sein können", betonte Castellucci.

Änderung bei Sicherheitsbehörden notwendig?

Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle hält Änderungen bei den deutschen Sicherheitsbehörden für notwendig. Kuhle sprach im Deutschlandfunk von einer "sehr starken Versäulung" in den Behörden. Die Raster dort passten auf Täter, die bestimmte islamistische, rechtsextreme oder linksextreme Motive haben.

Es gebe in den Behörden aber eine "Ohnmacht", wie mit Menschen umgegangen werden soll, die über Jahre in wirrer Art und Weise auch Gewaltdrohungen äußerten und etwa unter Verfolgungswahn litten und psychische Probleme haben. Deren Zahl sei "durchaus groß". Wenn es dann noch so viele unterschiedliche Zuständigkeiten bei den Behörden gebe, fielen solche Täter durchs Netz.

"Es wird keinen absoluten Schutz geben"

Unterdessen verwies der Landkreistag darauf, dass absoluter Schutz auf Weihnachtsmärkten unmöglich sei: "Es gibt überall eine höhere Präsenz von Polizei- und Ordnungskräften und auch in Magdeburg sind die Zugänge polizeilich kontrolliert und Taschen durchsucht worden", sagte Landkreistagspräsident Achim Brötel (CDU) dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

"Es wird aber einen absoluten Schutz nicht geben können." Wegen der Gefahren durch Messerattacken seien die gesetzlichen Voraussetzungen bis hin zu generellen Verboten bereits deutlich verschärft worden.

Offenbar mehr Verletzte

Während die politische Diskussion über den Anschlag also bereits in vollem Gange ist, hat sich die Zahl der Verletzten nach Informationen der Staatsanwaltschaft zufolge erhöht. Sie liege nun bei bis zu 235, sagte ein Sprecher in Magdeburg. Es hätten sich noch Menschen in der Uniklinik und bei Ärzten gemeldet.

Nicht auszuschließen sei aber, dass es Doppelzählungen gegeben habe. Bislang war von 200 Verletzten ausgegangenen worden. Die Zahl der Todesopfer liege weiter bei fünf, hieß es. Bei dem Anschlag wurden ein neunjähriger Junge sowie vier Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren getötet.

Demonstration der AfD in Magdeburg

Für den frühen Abend hat die AfD zu einer Kundgebung auf den Magdeburger Domplatz mit anschließendem Trauermarsch eingeladen. Dazu werden die AfD-Vorsitzende Alice Weidel und mehrere AfD-Landespolitiker erwartet.

Parallel zur AfD-Veranstaltung hat eine Initiative namens "Gib Hass keine Chance" zu einer Menschenkette um den Alten Markt aufgerufen. 

Spendentafel Magdeburg

Wie bezeichnen wir Taleb A.?
In der Regel spricht die tagesschau bei Gewalttaten und Verbrechen bis zu einem Urteil von "mutmaßlichem Täter/mutmaßlicher Täterin" - je nach Formulierung auch von "Tatverdächtigen/Tatverdächtiger". Denn: Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. 
Eine Ausnahme machen wir dann, wenn die Täterschaft gut belegt ist. So ist es auch im Fall des Anschlags von Magdeburg. Hier ereignete sich die Tat in der Öffentlichkeit. Taleb A. wurde festgenommen, nachdem er aus dem Tatfahrzeug ausgestiegen war. Deshalb sprechen wir künftig von Taleb A. als Täter und Todesfahrer und verzichten auf den Zusatz "mutmaßlich".

Auch der Pressekodex sieht dieses Vorgehen vor. In Richtlinie 13.1 heißt es dazu: "Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn (...) er die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. In der Sprache der Berichterstattung ist die Presse nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden, die für den Leser unerheblich sind."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 22. Dezember 2024 um 12:00 Uhr.