Debatte über Silvesterkrawalle "Krasse Bilder", Thema im Wahlkampf - und dann?
Politik, Polizei, Sozialarbeit: Über die Gewalt an Silvester wird viel diskutiert - vor allem in Berlin, wo Wahlen anstehen. Verpufft die Debatte bald wieder oder kann sie langfristig etwas ändern?
Er muss tief durchatmen vor der Antwort, denn die Frage nach seiner Sicht auf die Silvesternacht wurde Ralf Gilb sehr oft gestellt. Gilb ist Geschäftsführer bei Outreach, einem Träger in der Jugendsozialarbeit in Berlin. "Die letzten Tage waren massiv. In 30 Jahren habe ich noch nie so viel Medieninteresse erlebt. Selbst aus dem Ausland kommen Anfragen", sagt er.
Die Bilder von brennenden Barrikaden und Angriffen auf Einsatzkräften hätten auch ihn schockiert. Aufarbeitung und Strafverfolgung seien wichtig. Doch einiges an der politischen Diskussion ärgere ihn.
Der 63-Jährige war früher selbst als Streetworker unterwegs. Nun koordiniert er Projekte in genau den Kiezen Berlins, die in den ersten Wochen des neuen Jahres negative Schlagzeilen machten, darunter Neukölln, Schöneberg und Wedding. "Die Debatte um gescheiterte Integration bringt uns nicht weiter. Es geht um soziale Ursachen, vor allem Gewalterfahrung in der Familie und mangelnde Lebensperspektiven", schätzt Gilb die Ursachen für die Ausschreitungen ein. Hinzu komme eine Art Wettkampf unter den Jugendlichen, wer die "krassesten Bilder" für Social Media produziert.
Feuerwehrleute in Berlin löschen einen in Brand gesetzten Reisebus.
Berliner Wahlkampf in vollem Gang
Die mediale Wirkung der Krawallbilder schätzt auch die Berliner Gewerkschaft der Polizei als wesentlichen Faktor für die aufgeladene Debatte ein. "Unsere Kolleginnen und Kollegen werden täglich angegriffen, das ist traurige Realität. Das passiert nicht nur zu Silvester und nicht nur in Berlin-Neukölln", sagt Sprecher Benjamin Jendro.
Umso wichtiger sei es, Gewalt gegen Polizei und Feuerwehr anzugehen: sachlich, lösungsorientiert und kontinuierlich. Dazu brauche es weder populistische Forderungen, die rassistische Ressentiments schürten, noch Schönmalerei von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.
Damit spielt der Gewerkschafter auch auf den laufenden Wahlkampf in der Hauptstadt an. Am 12. Februar steht in Berlin die Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus an. Noch am Neujahrstag kündigte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) politische Konsequenzen nach den Randalen an, während die Opposition dem Senat Versäumnisse, Versagen und eine Mitschuld zuschrieb.
Inhaltlich mischte sich eine Diskussion über Böllerverbot und Gewalt gegen Beamte schnell mit der Frage nach der Herkunft der Täter und dem ungelösten Problem der Jugendkriminalität.
Für Bayerns CSU-Ministerpräsidenten Markus Söder, der ebenfalls bald wiedergewählt werden möchte, stand früh fest: Berlin entwickelt sich zur Chaosstadt. Giffey wehrte sich, sprach von Verallgemeinerungen und lud ihren Amtskollegen zu einem Treffen im Jugendzentrum ein.
Die Berliner CDU-Fraktion forderte unterdessen, die Vornamen aller deutscher Tatverdächtiger bekanntzugeben, um einen möglichen Migrationshintergrund transparent zu machen. Innenpolitiker der rot-grün-roten Regierungsparteien sahen darin Populismus.
Eilig einberufener "Gipfel gegen Jugendgewalt"
Zwischen Sitzung des Innenausschusses, Pressekonferenz des Senats und Schlagabtausch im Abgeordnetenhaus war der medienwirksamste Termin der Woche wohl der eilig einberufene "Gipfel gegen Jugendgewalt". Am Mittwoch, rund anderthalb Wochen nach den Ausschreitungen, traf sich Giffey mit Vertretern von Polizei, Feuerwehr, Justiz sowie Integrations- und Sozialarbeit. Sie kündigte eine "konzertierte Aktion" gegen Jugendgewalt, ein Millionenpaket für Prävention und Sozialarbeit und konsequente Strafverfolgung an.
Das Problem: noch immer sind viele der mutmaßlichen Gewalttäter aus der Silvesternacht nicht identifiziert. Verwirrung gab es zeitweise auch um die von der Polizei veröffentlichten Zahlen. Zunächst war von 145 Festgenommenen mit 18 verschiedenen Nationalitäten die Rede. Später stellte sich heraus, dass sich die Zahl auf alle Vergehen der Silvesternacht in Berlin bezog. Lediglich 38 Personen wurden wegen Attacken auf Polizei und Feuerwehr festgenommen, zwei Drittel davon Deutsche.
Kurzfristiger Aufschrei - oder langfristige Wirkung?
Nachdem sich die aufgeheizte Debatte über Gründe und Konsequenzen langsam legt, fragen sich die Beteiligten, was davon langfristig bleibt. Polizeigewerkschafter Jendro sieht in der angekündigten Prävention in der Sozialarbeit und der schnellen und konsequenten Bestrafung junger Gewalttäter richtige Ansätze, auch wenn diese nicht neu seien.
Zudem müssten das bundesweit diskutierte Böllerverbot und die Einschränkung von Schreckschusswaffen umgesetzt werden: "Natürlich verhindert ein Verbot den Einsatz von Böllern und Pyrotechnik gegen die Polizei nicht automatisch. Aber es gibt den Kollegen mehr Chancen, Taten Personen zuzuordnen und Angreifer beweissicher festzunehmen, weil die Lage übersichtlicher wird."
Gilb ist skeptisch, aber hoffnungsvoll was langfristige Effekte angeht. "Wichtig ist, dass dem Gipfel gegen Jugendgewalt nun politische Taten folgen. Dass das Thema nicht nur aufpoppt und wieder verpufft, sondern Maßnahmen auch umgesetzt werden", fordert Gilb.
Passende Konzepte habe die Sozialarbeit über Jahre entwickelt. Nun benötige es die langfristige finanzielle Unterstützung, sie umzusetzen: "Wir brauchen eine Kombination von Straßensozialarbeit und gut ausgestatteten Jugendzentren." Tausende Jugendliche seien dadurch bereits vom falschen Weg abgehalten worden. Die jüngsten Gewaltausbrüche dürften nicht über diese Erfolge hinwegtäuschen.