Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine Auf der Suche nach der Führungsrolle
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine schwand die Resthoffnung auf Diplomatie. Deutschland musste seine Außenpolitik neu ausrichten - und Gewissheiten über Bord werfen. Welche Rolle wird Deutschland künftig einnehmen?
Simone Scholz zeigt auf den Aufnäher an ihrer Jacke. Schwerter zu Pflugscharen. Sie komme aus der DDR-Friedensbewegung, erzählt sie am Donnerstagabend im Nieselregen am Brandenburger Tor. Ihre Botschaft: "Halt! Stopp! Es nimmt ein schlimmes Ende." Zusammen mit ihrem Mann ist sie dem Aufruf verschiedener Friedensgruppen gefolgt. Man könne die Ukraine humanitär oder mit Medikamenten unterstützen, sagt Gerd Scholz. Aber Waffen? "Ein riesengroßer Fehler".
Fünf Stunden ist das Ehepaar angereist, um dabei zu sein, wenn aus Kerzen ein großes Peace-Zeichen entsteht. Auf einem Banner ist zu lesen: "Weder Putin noch NATO. Gegen Krieg und Aufrüstung." Auch Flaggen der Linken sind zu sehen.
"In einer anderen Welt aufgewacht"
Ob bei der Aktion in Berlin-Mitte, am Frühstückstisch oder im Netz - in Deutschland wird diskutiert: über russische Raketen, die in ukrainische Wohnhäuser einschlagen, über die Lieferung von Kampfpanzern, aber auch die Angst, in den Krieg hineingezogen zu werden. Hinter der Bundesregierung liegen zwölf Monate, die die deutsche Außenpolitik verändert haben. Die Ampelparteien waren zu Schritten gezwungen, die bei der Unterschrift unter den Koalitionsvertrag nicht denkbar schienen.
"Wir sind vor einem Jahr in einer anderen Welt aufgewacht", sagt Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio: "und ich im wahrsten Sinne des Wortes, als um fünf Uhr morgens mein Handy klingelte und mir mitgeteilt wurde: Jetzt sind sie einmarschiert." Die Resthoffnung auf Diplomatie, auf eine Wiederbelebung des Normandie-Formates - also Verhandlungen mit Russland, Ukraine und Frankreich - war endgültig zerstoben.
Scheinbar unverrückbare Positionen
Stattdessen wird über Waffenlieferungen diskutiert, gerungen und gestritten. In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP noch aufgeschrieben: "Für eine restriktive Rüstungsexportpolitik brauchen wir verbindlichere Regeln." Keine Waffen in Kriegsgebiete schien eine unverrückbare Position zu sein - bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Zeitenwende. Die Konsequenzen: die Ankündigung von 100 zusätzlichen Milliarden Euro für die Bundeswehr und außerdem Waffen, damit sich die Ukraine verteidigen kann.
Die Stufen der Lieferungen zogen sich über Monate. Nicht nur die Union warf dem Bundeskanzler Zögerlichkeit vor. Auch aus der Ampel - vor allem von Grünen und FDP - verstummten die Rufe nach mehr Tempo nicht. Außenministerin Baerbock betont, es sei wichtig, dass die Menschen in der Ukraine sich auf Unterstützung aus Deutschland verlassen könnten. Und: "Wir haben eben auch eine Verantwortung für das Nicht-Tun."
Olaf Scholz will sich nicht treiben lassen. Wie ein Mantra wiederholt er drei Leitlinien der deutschen Politik: entschlossene Unterstützung, keine direkte NATO-Beteiligung, alle Entscheidungen in enger Abstimmung mit den Verbündeten. Der Blick geht dabei besonders nach Washington. Der Kanzler stimmte Ende Januar der Lieferung von Kampfpanzern zu, der US-Präsident ebenfalls, auch wenn die USA das eigentlich nicht für sinnvoll hielten.
Scholz und Biden betonen immer wieder, wie stark das transatlantische Verhältnis sei. Gut möglich, dass die Bande im Krieg noch stärker geworden sind. Das vergangene Jahr hat jedoch auch gezeigt, wie unabdingbar die USA für die Unterstützer-Koalition der Ukraine sind. Das spiegelt sich auch in den jüngsten Zahlen des "Ukraine Support Trackers", einem Projekt der Uni Kiel, wider.
Gestiegene Erwartungen an Deutschland
Was soll Deutschlands Rolle in der Welt sein? Die Diskussion ist nicht neu. 2014 hatte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchener Sicherheitskonferenz gefordert: "Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde." Mehr Verantwortung. Es ist eine Formel, die seitdem nie konkret mit Leben gefüllt wurde.
Bei den "Leopard"-Panzern ist Scholz vorangegangen und sieht sich plötzlich in der Rolle, andere von der Lieferung überzeugen zu müssen. Er bietet eine Führungsrolle bei Ausbildung, Nachschub und Logistik an: "Für mich ist das ein Beispiel von Leadership (Führung), die jede und jeder von Deutschland erwarten kann." Gut möglich, dass die Erwartungen an Deutschland deutlich größer sind.
Wer bestimmt, wie es weitergeht?
Die vergangenen zwölf Monaten haben die deutsche Außenpolitik verändert. Wichtige außenpolitische Diskussionen innerhalb der Ampel sind noch nicht abgeschlossen. Beispiel China: Bemerkungen der grünen Außenministerin vor der Peking-Reise des Kanzlers klangen wie Kritik. Aus Sicht des Kanzleramts war die Reise später ein Erfolg, weil sowohl Scholz als auch Präsident Xi Jinping erklärt hätten, es dürften keine Atomwaffen in diesem Krieg eingesetzt werden. Und sollte China Waffen an Russland liefern? Scholz warnt am Abend in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner", er habe chinesischen Gesprächspartnern, "klar gesagt, dass das nicht akzeptiert werden kann".
Noch hat die Bundesregierung keine abgestimmte China-Strategie vorgelegt. Gleiches gilt für die erste Nationale Sicherheitsstrategie. Dieses Dokument dürfte genauestens nach Hinweisen untersucht werden, wer die deutsche Außenpolitik wie stark prägt. Über ein gespanntes Verhältnis zwischen Kanzler und Chefdiplomatin war zuletzt immer wieder berichtet worden. Scholz spricht im ZDF von "anderen und unterschiedlichen Persönlichkeiten", die aber "sehr eng miteinander abgestimmt sind, eng kooperieren, alle Sachen gemeinsam vorbereiten". Eine dauerhafte Konkurrenz der beiden wäre wenig hilfreich in Zeiten wie diesen.