Nationale Sicherheitsstrategie Vorzeigeprojekt oder nur ein "Haufen Papier"?
Eigentlich sollte die Nationale Sicherheitsstrategie längst da sein. Heute will die Bundesregierung sie im Kabinett beschließen. Kritik an dem Papier gibt es schon jetzt.
Am Vormittag soll sich der Vorhang heben. Online will die Bundesregierung den vollständigen Text der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie präsentieren. Dann soll jenes Dokument für alle zugänglich sein, das bisher als "Verschlusssache Vertraulich" erfolgreich abgeschirmt war: der Zugang mit hohen Hürden verbunden, eine Weitergabe hätte empfindliche Konsequenzen gehabt.
Ein lang erwartetes, lange gehütetes Dokument erblickt das Licht der Öffentlichkeit. Doch fiebrige Vorfreude ist im Berliner Politikbetrieb nicht zu spüren. Mit allzu großen Überraschungen rechnet wohl niemand. In groben Konturen ist längst zu hören, welche Elemente sich im Papier finden: Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben, Abwehr gegen Cyber-Angriffe, die Sicht auf China und Russland. Drei Säulen: Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit. Es fehlen noch die konkreten Formulierungen, um die die diversen Ministerien sowie die drei Ampel-Partner so lange gerungen haben.
Erweiterter Sicherheitsbegriff
Im Dezember 2021 - Wochen vor dem Einmarsch der russischen Invasion in der Ukraine - hatte die neue Regierung im Koalitionsvertrag das Versprechen abgelegt, "im ersten Jahr" eine "umfassende Nationale Sicherheitsstrategie" vorzulegen - kein bis ins Letzte ausbuchstabierter Plan, aber gemeinsame Leitplanken. Ganz bewusst werden Diplomatie, Entwicklungspolitik und die Verpflichtungen gegenüber der NATO, also das militärische Engagement, in einem Atemzug genannt. Im Blick hat die Bundesregierung einen erweiterten Sicherheitsbegriff, zu dem auch Themen wie Ernährungssicherheit, Klimaschutz und Energiefragen gehören.
Die Federführung hat Außenministerin Annalena Baerbock. Die Nationale Sicherheitsstrategie soll ein Vorzeigeprojekt werden. Als die grüne Ministerin im März 2022 in einer Grundsatzrede von der "Sehnsucht nach Freiheit" spricht, ist die Welt längst eine andere. Russischer Angriff auf die Ukraine. Die Zeitenwende-Rede des Kanzlers. Die Außenministerin reist quer durchs Land, will mit Menschen über ihre Ängste und Erwartungen an Sicherheit ins Gespräch kommen.
"Außenpolitik aus einem Guss"
Doch je länger der Prozess dauert, umso deutlicher zeigt sich, dass auch bei der Außen- und Sicherheitspolitik drei Partner miteinander verhandeln, die unterschiedliche Vorstellungen haben. Auch zwischen einzelnen Ministerien zeigen sich Konflikte. Die Veröffentlichung wird immer wieder verschoben. Von Jahresbeginn 2023 auf Februar. Der Plan, das Papier vor der Münchener Sicherheitskonferenz zu präsentieren und dort international zu diskutieren, scheitert.
Jetzt also ist es so weit, noch einmal Monate später. Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion lobt die ressortübergreifende Strategie als enormen Erfolg: "Erstmalig ist damit einer Koalition gelungen, dass Außenpolitik aus einem Guss kommt - so wie es sich die Ampel im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt hat." Auch die Verzögerungen sieht er nicht als dramatisch an. Bei einem so grundlegenden Dokument sei es "absolut erforderlich, dass gründlich und vorausschauend formuliert wird". Kritiker vermissen einen großen Wurf, sehen nur noch den kleinsten gemeinsamen Nenner.
FDP weiter für nationalen Sicherheitsrat
Eine Streitfrage - auch innerhalb der Ampelkoalition: Braucht es ein neues Gremium? Kurzfristig wird es das nicht geben, auch keinen Nationalen Sicherheitsrat. Die FDP bedauert diesen Verzicht. Ulrich Lechte, der außenpolitische Sprecher der Fraktion, sagt im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio: "Wir brauchen dringend ein Gremium, das sich ressortübergreifend mit der taktischen, sicherheitspolitischen Lage beschäftigt, jenseits der deutschen Innenpolitik."
Ein Sicherheitsrat - angesiedelt im Kanzleramt? Nicht zu machen mit dem Auswärtigen Amt und den Grünen. Sie fürchteten eine Machtverschiebung. Die FDP hält an der Idee fest und will weiter versuchen, die anderen Parteien in der Koalition davon zu überzeugen. In Krisenzeiten, so Lechte, funktionierten Austausch und Abstimmung, aber es fehle die langfristige ressortübergreifende Perspektive.
Mehr als "ein Haufen Papier"?
Skeptisch klingen die Erwartungen bei der Union. Der Erfolg der Nationalen Sicherheitsstrategie fuße maßgeblich auf zwei Pfeilern, sagte der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Johann Wadephul dem ARD-Hauptstadtstudio: einer deutlich besseren internen Koordinierung der deutschen Außenpolitik und einer deutlichen Steigerung der Verteidigungsausgaben. "Nach allen Informationen, die wir erhalten, springt die Nationale Sicherheitsstrategie in beiden Punkten deutlich zu kurz." Der Verteidigungsminister bekomme aktuell nicht die geforderten zusätzlichen Milliarden. Wadephul: "Damit bleibt Deutschland auch weiterhin nur eingeschränkt handlungsfähig."
Auch die Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin vom European Council on Foreign Relations sieht hier einen entscheidenden Punkt: Wenn die Nationale Sicherheitsstrategie nicht mit den nötigen Haushaltsmitteln hinterlegt werde, bleibe sie "ein Haufen Papier".
Also nun: Vorhang auf für die gemeinsamen Leitplanken zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Der Praxistest steht der Strategie noch bevor, sobald die Regierungspartner daraus konkrete Entscheidungen ableiten müssen - und zwar gemeinsam.