Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt "Wir müssen klare Kante zeigen"
Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt wirft CDU-Chef Merz vor, mit seinen Äußerungen zur AfD der Demokratie zu schaden. Die Grünen-Politikerin äußert sich im Gespräch mit tagesschau24 zu den Erfolgen der AfD und wo sich die Grünen sehen.
tagesschau24: Ihre Partei muss nicht nur schlechte Umfragewerte verdauen, sie trifft auch auf offenen Hass - wie ein Erlebnis von Ihnen in Dessau zeigt. Was geht in Ihnen vor, wenn Menschen Sie anschreien - es wäre ja normal, Angst zu haben?
Katrin Göring-Eckardt: Ich bin oft gefragt worden: "Hatten Sie Angst?" Ich hatte keine Angst. Ich habe gedacht, ich stehe jetzt hier, ich bleibe auch stehen. Und ich hatte innerlich eine feste Entschiedenheit. Ich lasse mich jetzt hier nicht vertreiben - nicht von dem Gebrüll, nicht von der Gewalt in diesen Stimmen und in diesem Block, die ja ganz offensichtlich war. Ich glaube, das war ganz wichtig für mich, aber auch für die Leute, die ebenfalls da waren, für die Zaungäste sozusagen, die im Restaurant nebenan saßen.
tagesschau24: Ist diese Dimension von Aggression Ihrer Meinung nach neu?
Göring-Eckardt: Diese Bösartigkeit ist schon was Neues. Ich habe natürlich in den vergangenen Jahren auch immer wieder Anfeindungen bekommen. Ich bin mal angespuckt worden in einem Café, oder es gab auch Demonstrationen gegen die eigene Politik. In den Jahren 2015 und 2016 gab es sehr, sehr viele Drohungen - Gewaltandrohungen und auch Gegenwehr. Aber bei dieser Bösartigkeit in den Gesichtern, da fragt man sich schon: "Was geht in den Leuten eigentlich vor? Sind die jemals wieder für das Gemeinwesen zurückzugewinnen?" Das ist schon neu.
"Enttäuschungen auch in Regierungszeiten"
tagesschau24: Sie selbst kommen von Bündnis90, Sie haben die Zusammenführung mit den Grünen zu Wendezeiten ja mitgestaltet, das ist ziemlich genau 30 Jahre her. Sie haben also eine historische Perspektive. Wie kommt es, dass die Grünen im Osten so unbeliebt sind?
Göring-Eckardt: Die Grünen sind jedenfalls traditionell nicht so erfolgreich wie in Westdeutschland. Dafür gibt es ein paar objektive Faktoren. Es gibt nicht viele sehr große Städte, und da sind die Grünen traditionell ja besonders stark. Viele Leute, die mobil sind, die freiheitsliebend und weltoffen sind, sind weggezogen aus Ostdeutschland, weil sie woanders Jobs gefunden haben. Und es gibt natürlich auch in Regierungszeiten Enttäuschungen. Beispielsweise darüber, dass die Frage "wie wirkt die Politik eigentlich im ländlichen Raum, in den Klein- und Mittelstädten?" keine so große Rolle spielt. Und die Älteren sehen: Ihr seid diejenigen, die besonders kompetent sind in der Umweltpolitik, mit allem, was mit Umwelt, Naturschutz zu tun hat. Das ist doch eigentlich besser geworden. Also es stinkt nicht mehr nach Braunkohle, die Luft ist sauberer, die Flüsse sind sauberer, man kann sogar drin baden. Das ist nicht so das vordringliche Problem.
tagesschau24: Aber Sie sagen, es ist eine Stadt-Land-Problem?
Göring-Eckardt: Es ist auf jeden Fall auch ein Stadt-Land-Problem. Vieles wird von der Stadt her gedacht. In den Ministerien arbeiten Menschen, die in der Stadt wohnen. Das trifft auf Berlin genauso zu wie auf die Landeshauptstädte. Ich glaube, wir täten gut daran, wenn wir auf dem Land präsent wären und in den Klein- und Mittelstädten. Wenn wir dort auch gedanklich präsent wären, sobald wir unsere Politik machen - egal ob es ums Heizen oder um die Fachkräfte geht. Viele Unternehmen sagen: "Wir haben riesige Sorgen. Wenn wir hohe AfD-Ergebnisse haben, wird das wirtschaftlich zurückschlagen, denn wir werden weder die Fachkräfte kriegen noch die Investitionen." Und das hat dann natürlich auch Auswirkungen auf Ostdeutschland.
"Ausgleich ist die Aufgabe von Politik"
tagesschau24: Gibt es in Ostdeutschland vielleicht eine andere Vorstellung von Demokratie, dass diese dazu da ist, den Willen des Volkes umzusetzen? Im Gegensatz zu dem pluralistischen Ansatz, unterschiedliche Meinungen und Interessen im Land auszugleichen.
Göring-Eckardt: Ich denke, es geht um Ausgleich. Das ist die entscheidende Frage. Das ist die Aufgabe von Politik. Manchmal wird Politik ja so verstanden, dass man das Problem einer Person bitteschön zu lösen hätte. Ich habe darüber mit Vielen diskutiert und gesagt: "Nein, das ist nicht die Aufgabe von Politik. Ihr könnt euer Problem adressieren." Jemand sagte beispielsweise zu mir: "Wir wollen gern in unserem Ort ein Schwimmbad, und das müsst ihr jetzt mal lösen." Dann sage ich: "Ja, aber die anderen wollen eher den Hort. Was machen wir denn da?"
Oder ein Bürgermeister sagte vor zwei Jahren, alle seien sich einig, dass das Schwimmbad die zentrale Frage in dem Ort sei. Zwei Jahre später wollten sie dann plötzlich doch etwas anderes. Was soll ich da machen? Ich glaube, es geht in der Demokratie wirklich darum, Mehrheiten zu betrachten. Aber es geht eben auch darum, Minderheiten zu schützen. Und die leben natürlich in Ost und West ganz genauso. Um das auszutarieren und hinzubekommen, das ist der Job, den wir als Politikerinnen haben.
"Neu ist die Handlungsbereitschaft"
tagesschau24: Warum hat die AfD im Osten so viel Erfolg? Warum hat Hass gegen fremde Menschen so viel Erfolg?
Göring-Eckardt: Das nicht nur im Osten so, da hat der ehemalige Präsident Gauck ja recht. Wir haben gerade eine Umfrage aus Baden-Württemberg, da liegt die AfD bei 19 Prozent. Es ist nicht nur ein Ost-Problem. Aber es gibt in der Tat gefestigte Positionen. Da gibt es 15 Prozent der Menschen, die massiv ausländerfeindlich sind, die Minderheiten nicht akzeptieren, die antisemitisch denken und die denken, sie könnten das in Handeln umwandeln. Auch dazu gibt es Untersuchungen. Und dieses in Handel umwandeln bedeutet dann manchmal zu wählen, bedeutet manchmal auch, sich auffordern zu lassen, solche Proteste mitzuerleben und durchzuführen. Und das ist neu, diese Handlungsbereitschaft.
Deswegen muss auf der anderen Seite die Demokratie auch klar sein in der Abgrenzung, aber auch im Einnehmen von anderen Perspektiven, als sie gewohnheitsmäßig da sind. Ich glaube in der Tat, es sind Menschen zurückzugewinnen. Wahrscheinlich nicht alle, aber auch für die, die für die Demokratie erreichbar sind, müssen wir klare Kante den anderen gegenüber zeigen.
tagesschau24: Immer wieder bedienen Protagonisten der bürgerlichen Mitte mittlerweile populistische, fremdenfeindliche Töne. Was halten Sie davon?
Göring-Eckardt: Ich finde das gefährlich. Ich finde es gefährlich zu versuchen, die AfD mit ihren eigenen Parolen zu schlagen. Dann werden die Menschen das Original wählen. Das haben wir unter anderem in Sonneberg gesehen. Verloren hat ja der CDU-Kandidat. Mich wundert, dass am Ende die Grünen schuld sein sollten, wenn der CDU-Kandidat verliert. Aber das ist genau der Punkt. Der CDU-Kandidat hat aber auch verloren, weil er ganz ähnlich geredet hat wie der Protagonist der AfD.
"Wir müssen uns nicht verkriechen"
tagesschau24: Lassen Sie uns auf Ihre Partei schauen. Diese befindet sich im bundesweiten Umfragetief. Magere 13 Prozent. War es nur das Heizungsgesetz?
Göring-Eckardt: Na ja, wir sind in der Mitte der Legislaturperiode, und wir können vieles besser machen. Und das heißt, das Gesetz gehört sicherlich dazu. Auf der anderen Seite sind wir innerhalb der Ampelkoalition die Partei, die am nächsten an ihrem Bundestagswahlergebnis ist. Wir müssen uns jetzt auch nicht in der Ecke verkriechen und sagen "Um Himmels willen". Aber wir können es besser machen. Aber das gilt für die Regierung insgesamt. Da würde ich auch sagen: Nicht nur wir können, wir müssen.
tagesschau24: Kritikerinnen und Kritiker fürchten auf der anderen Seite auch um den Markenkern der Grünen. Stichwörter sind hier "Waffen für die Ukraine", "Asylpolitik". Verraten Sie sich selbst?
Göring-Eckardt: Nein, gar nicht. Wenn es um die Waffen für die Ukraine geht, geht es um das Selbstverteidigungsrecht. Es geht darum, dass wir dieses Land unterstützen, das für unsere Werte, für die demokratischen Werte, für ein gemeinsames Europa steht. Das ist vollkommen legitim. Und da gibt es auch innerhalb der Grünen eine sehr, sehr große Zustimmung dazu. Und bei der Asylpolitik geht es natürlich auch weiterhin darum, die Menschenrechte aufrechtzuerhalten und trotzdem innerhalb Europas eine gemeinsame Position zu finden. Das ist schwierig. Das werden wir immer wieder auszutarieren haben.
"Es kommt auf gute Politik an"
tagesschau24: Schwierigkeiten haben Sie anscheinend auch, Ihre Politik zu verkaufen. Es fällt auf, dass Ihre Partei den Narrativen der anderen ziemlich oft hinterherläuft. Was läuft falsch in der Kommunikationsstrategie der Grünen?
Göring-Eckardt: Ich glaube nicht, dass die Kommunikationsstrategie das Problem ist. Ich bin immer ein bisschen skeptisch, wenn jemand sagt: "Wir müssen es nur besser verkaufen oder besser erklären." Ich finde, es kommt darauf an, gute Politik zu machen. Und das betrifft natürlich die Umweltpolitik und die Klimaschutzpolitik ganz zentral. Wir erleben den x-ten Hitzesommer, wir erleben die Brände in Südeuropa. Das ist ja inzwischen schon sehr, sehr nah.
tagesschau24: Und trotzdem sind sie immer noch die Verbotspartei.
Göring-Eckardt: Und trotzdem erzählen manche, wir würden was verbieten wollen. Andere wollen sehr viel mehr verbieten. Wenn ich mir Herrn Aiwanger angucke, oder wenn ich mir die Leute anschaue, die sogar beschlossen haben, dass man in bestimmten Institutionen nicht mehr gendern dürfe. Das sind Verbote, zu denen wir nicht stehen.
Aber ich sage ganz klar, man muss gute Politik machen, aber im Blick haben, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft gestärkt wird und dass wir die Zukunft auch nicht vergessen. Die Bewältigung der Klimakrise, das ist Zukunftspolitik. Da legt man sich mit dem einen oder anderen an. Aber das ist halt auch die Aufgabe von Politik, nicht nur tagesaktuell zu sagen: "Wo kriege ich heute die Mehrheit her", sondern auch noch in fünf Jahren sagen zu können: "Wir haben verantwortungsvoll gehandelt."
tagesschau24: Wie sieht es mit Ihrer Zukunft aus? Welche Ambitionen haben Sie in Ihrer Partei noch?
Göring-Eckardt: Ich bin total happy mit dem, was ich jetzt mache.
Das Interview führte Michail Paweletz, tagesschau24. Für die schriftliche Fassung wurde das Interview redigiert und gekürzt.