Das Grundgesetz und der Osten Eine verpasste Chance?
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR dem Grundgesetz bei. Der Wunsch nach schneller Einheit war groß. Die Idee, eine neue, gesamtdeutsche Verfassung zu schreiben, wurde in der Eile verworfen. Ein Fehler?
Im Herbst der Friedlichen Revolution rufen Zehntausende auf den Straßen: "Wir sind das Volk". Es ist die große Sehnsucht nach Demokratie, nach einer anderen DDR. Doch einen historischen Augenblick später ändert sich nur ein Wort. Jetzt rufen die Leute: "Wir sind ein Volk". Der Traum von der Deutschen Einheit überrollt alles. Es geht um Reisefreiheit, Wohlstand und D-Mark.
"Ich glaube, dass manche Ostdeutsche gedacht haben, es wird dann alles so wie in der Nivea-Werbung", sagt Katrin Göring-Eckardt, heute Bundestagsvizepräsidentin und damals Bürgerrechtlerin. In dieser Zeit, so sagt es die Grünen-Politikerin, habe es nicht so viele Alternativen zur schnellen Einheit gegeben.
Mit einem Staatsakt haben am Donnerstag in Berlin die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes. Die Festansprache auf dem Forum zwischen Bundestag und Kanzleramt hielt am Mittag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. An der Feier nahmen die Spitzen aller Verfassungsorgane teil. Dem Staatsakt ging ein ökumenischer Gottesdienst voraus.
Von Freitag bis Sonntag folgt rund um das Kanzleramt und den Bundestag ein Demokratiefest für die Bevölkerung, das auch dem 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution in der DDR gewidmet ist. Gefeiert wird auch in Bonn und in Karlsruhe mit einer Menschenkette um das Bundesverfassungsgericht.
Fremdeln mit der Bundesrepublik
Die wird in einer Nachtsitzung von der DDR-Volkskammer beschlossen. Es ist ein Beitritt nach Artikel 23: Das Grundgesetz gilt ab dem 3. Oktober 1990 in ganz Deutschland. Im Westen ändert sich fast nichts, im Osten alles.
Das könnte ein Grund sein, warum noch heute Ostdeutsche mit dem Leben in der Bundesrepublik fremdeln. Göring-Eckardt sagt, man hätte sich damals "an einen Grundgesetzentwurf, an einen Verfassungsentwurf setzen sollen". Das heißt, gemeinsam etwas Neues schreiben und das Volk darüber abstimmen lassen. Es wäre eine Gründungsgeschichte des vereinten Deutschlands gewesen.
Entwurf einer neuen DDR-Verfassung
Wie wollen wir leben? Eine Frage, die sich Anfang 1990 für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger sowieso stellt. Sie stecken mitten im Abenteuer Demokratie. Und in diesem Niemandsland zwischen den Systemen tagt der Runde Tisch in Berlin. Dort sitzen die alten Machthaber mit der Opposition zusammen und diskutieren. Basisdemokratie, die damals sogar im Fernsehen übertragen wird. Es geht noch um Reformen in der DDR - und eine neue Verfassung. Man will sich nicht dem Grundgesetz unterwerfen.
In Windeseile wird eine Verfassung geschrieben. Die Präambel kommt von der Schriftstellerin Christa Wolf. Die Fahne der neuen, demokratischen DDR soll schwarz-rot-gold sein, das Wappen "Schwerter zu Pflugscharen" - das Symbol der Friedensbewegung.
"Grandios gescheitert"
Vieles in dieser Verfassung erinnert an das Grundgesetz. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", lautet ebenfalls der erste Artikel. Aber es gibt auch Unterschiede. Das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnen stehen in diesem Entwurf.
Katrin Göring-Eckardt findet, Grundrechte wie diese würden auch heute einer Verfassung guttun. "Wir diskutieren bis heute darüber, wie das mit den Mieten ist und wer eigentlich wo wohnen kann und wer in schlecht gedämmten und ungesunden Wohnungen leben muss. Und wer sich leisten kann, anders zu wohnen und wie viele Obdachlose wir haben."
Günter Nooke sitzt im Frühling 1990 am Runden Tisch - auf der Seite der Bürgerrechtler. Er hat damals Wahlkampf für eine Wiedervereinigung mit neuer Verfassung gemacht. "Grandios gescheitert" sei das, sagt er heute. Es sei der Versuch gewesen, "gleichberechtigt in die deutsche Einheit zu gehen und dieses Manko des Beitritts etwas abzumildern. Aber ich glaube, das war sehr idealistisch."
Am 12. März 1990 ist der Verfassungsentwurf für die DDR fertig. Die Volkskammer soll ihn beschließen, danach das Volk abstimmen. Doch nur sechs Tage später finden die ersten freien Wahlen in der DDR statt. Das Volk stimmt ab, aber für die schnelle Einheit. Also für den Nivea-Werbungstraum und gegen lange Diskussionen über eine Verfassung.
Zu wenig miteinander geredet?
"Jetzt sind wir immer nur in einem Reparaturbetrieb", findet Katrin Göring-Eckardt. "Die Ostdeutschen müssen sich immer erklären, dass sie nicht komisch sind. Warum gab es so etwas wie Besser-Wessis und Jammer-Ossis? Weil wir zu wenig miteinander geredet haben, weil wir uns kaum kennengelernt haben."
Das Grundgesetz sei ein Segen für Deutschland, sagt Bürgerrechtler Günter Nooke, der in der CDU seine politische Heimat gefunden hat. Es brauche keine neue Verfassung. Aber mehr Interesse am Osten. "Erst, wenn in den neuen Bundesländern vielleicht anders gewählt wird, als man sich das am besten vorgestellt hat oder wünscht, dann wundert man sich und sagt: Oh, wir müssen uns um den Osten kümmern. Das finde ich bedenklich."
Was nicht ist, kann noch werden
Es wäre klug gewesen, 1990 oder später eine neue, gemeinsame Verfassung zu schreiben, findet der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk - auch wenn es nur symbolisch gewesen wäre. "Staaten, Nationen, Gesellschaften brauchen symbolische Haltepunkte, und den haben wir damals, wie ich finde, etwas leichtfertig aus der Hand gegeben", sagt er.
Aber was nicht ist, kann noch werden. Kowalczuk wirbt dafür, sich gemeinsam Gedanken über eine Verfassung machen. Das sei zuallerletzt die Aufgabe von Juristinnen und Juristen, sondern der gesamten Gesellschaft. "Wir haben ein Problem mit Feinden der Demokratie, mit Feinden des Grundgesetzes von rechts und links. Und genau denen würde ich gern einen demokratischen Verfassungsprozess entgegenstellen." Eine Verfassung, die vom Volk beschlossen werde, stärke die Demokratie.
Volksabstimmung über eine neue Verfassung?
Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow hatte am Dienstag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine Volksabstimmung vorgeschlagen, um das Grundgesetz mittels Volksabstimmung in eine deutsche Verfassung zu verwandeln. Damit könne die "emotionale Fremdheit" Ostdeutscher mit dem vor 75 Jahren in Westdeutschland erarbeiteten Grundgesetz überwunden werden, so der Linken-Politiker.
Die Möglichkeit dazu gäbe es. Noch immer gibt es Artikel 146. Es ist der letzte und er besagt, das Grundgesetz verliere seine Gültigkeit, wenn eine neue Verfassung in Kraft trete.
Das Grundgesetz war gedacht als Provisorium. Es wurde eines, das 75 Jahre hält und mit dem viele zufrieden sind. Aber vielleicht gäbe es die Chance, es noch besser zu machen.