Regierungsbildung in Ländern Notlösung Minderheitsregierung
Sachsen und Thüringen könnten Minderheitsregierungen bekommen. Sollten diese auch mit der AfD stimmen? Politikwissenschaftler halten das für möglich - wenn die CDU strategisch vorgeht.
Minderheitsregierungen haben in Deutschland nicht den besten Ruf. Der Politikwissenschaftler Oliver Lembcke von der Ruhr-Universität sagt: "Es hat immer den Geschmack einer Notlösung." Doch genau die braucht es nun.
In Sachsen haben CDU und SPD beschlossen, Koalitionsgespräche über eine Minderheitsregierung aufzunehmen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) war zuvor aus gemeinsamen Gesprächen ausgestiegen. Auch in Thüringen ist ein solches Modell möglich, sollte eine Koalition von CDU, SPD und BSW noch scheitern.
Ostdeutsches Parteiensystem "dysfunktional"
Befürworter einer Minderheitsregierung verweisen etwa auf Skandinavien. In den Ländern dort sind solche Regierungen üblich. Lembcke hält den Vergleich für unpassend. "In Skandinavien gibt es eine politische Kultur des Kompromisses - die fehlt hier", sagt er.
Michael Kretschmer, CDU-Politiker und sächsischer Ministerpräsident, hatte lange eine Minderheitsregierung vermeiden wollen. Auch weil der Aufwand dafür hoch sei. Lembcke bestätigt das. Minderheitsregierungen blieben abhängig von den Parteien, die sie tolerieren. Viele Abstimmungen seien nötig, damit am Ende oft nur Paketlösungen des kleinsten gemeinsamen Nenners gefunden würden.
Das Ergebnis hätten die vergangenen Jahre in Thüringen gezeigt. Hier hatte eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung zunächst eine Vereinbarung mit der CDU getroffen, diese lief dann aber aus. Der politische Streit lähmte fortan das Land. "Alle Beteiligten waren erleichtert, dass das vorbei ist", sagt Lembcke.
Leichter ist es seit den Landtagswahlen dennoch kaum geworden. In Thüringen kommen CDU, SPD und BSW zusammen nur auf 44 von 88 Sitzen. Damit kann keine Mehrheit gegen sie gebildet werden. Eine eigene Mehrheit haben sie allerdings auch nicht.
Lembcke hält das ostdeutsche Parteiensystem für hoch polarisiert. Durch eine starke AfD und ein starkes BSW sei es "dysfunktional" geworden. Und da die CDU Koalitionen mit der AfD ausschließt, schwinden die Alternativen.
Idee der "flexiblen Mehrheiten"
Der Politikwissenschaftler Christian Stecker von der TU Darmstadt sagt, es dürfe auch weiterhin keine Koalition mit der AfD geben. Die Brandmauer habe die AfD allerdings nicht geschwächt. Gleichzeitig hätten "Anti-AfD-Koalitionen" wie schwarz-rot-grün in Sachsen den Parteien kaum Möglichkeit für Profilierung geboten.
Stecker schlägt ein neues Modell vor: flexible Mehrheiten. Dann würden sich Mehrheiten im Parlament nicht mehr nach einer jeweiligen Koalition richten, sondern immer wieder neu finden. Er sieht darin eine Chance: "Anders als in Koalitionen müssen Parteien keine Kompromisse mittragen, die an ihrem Markenkern kratzen." Die Unterscheidbarkeit der Parteien bliebe gewahrt.
Stecker hatte im August die inhaltlichen Überschneidungen der Parteien vor den Wahlen in Thüringen und Sachsen untersucht. Dabei griff er der Einfachheit halber auf Positionen im Wahl-O-Mat zurück. Demnach würden sich in nahezu allen Politikfeldern Mehrheiten finden lassen, wenn die in beiden Ländern als gesichert extremistisch eingestufte AfD punktuell einbezogen wird.
Unter den rechnerisch möglichen Mehrheiten hätte ansonsten eine Zusammenarbeit von AfD und CDU die meisten Übereinstimmungen - noch vor einer Koalition von CDU, BSW und SPD und auch vor flexiblen Mehrheiten unter allen Parteien außer der AfD.
Kooperationsvereinbarungen für einzelne Projekte
Statt einer klassischen Tolerierung hält Stecker Kooperationsvereinbarungen zu einzelnen Projekten für möglich, jeweils geschlossen von unterschiedlichen Parteien. "Die Wählerinnen und Wähler würden es vielleicht begrüßen, wenn es stärker um Themen geht", sagt er. Der neue Umgang mit der AfD biete neben Risiken auch Chancen für die CDU. Sie könne die Konkurrentin jetzt inhaltlich stellen.
Stecker erinnert daran, dass die AfD in Thüringen Anfang dieses Jahres einem CDU-Antrag zur Senkung der Grunderwerbsteuer zur Mehrheit verholfen hatte, sich kurz darauf einer Verschärfung in der Migrationspolitik verweigerte. Die CDU müsse das stärker nutzen, sagt er. "Sie muss klar machen, dass die AfD so gegen das Interesse der eigenen Wähler handelt."
Solche "themenspezifischen Abstimmungen" mit der AfD könnten zudem etwas Druck aus dem Kessel der CDU nehmen, so Stecker. Denn ein Teil der Mitgliedschaft spricht sich seit Längerem auch für schwarz-blaue Koalitionen aus, gerade in Sachsen.
Brandmauer nicht ohne Gegenstrategie auflösen
Tatsächlich befassen sich erfahrene Parlamentarier in Thüringen und Sachsen schon länger mit dem Modell einer Minderheitsregierung, die gelegentlich auch mit der AfD stimmt. Dies würde den Vorwurf entkräften, dass die CDU nur "linke" Politik mache, lautet ein Argument. Gleichzeitig besteht Unsicherheit, ob tatsächlich die gesamte Fraktion mitziehen würde. Denn in einem anderen Teil der CDU sind die persönlichen Vorbehalte gegen die AfD weiterhin groß.
Auch Politikwissenschaftler Oliver Lembcke hält es für möglich, sich von der Brandmauer zu lösen. Sie sei "unklug", weil die CDU so jenen Teil ihrer Inhalte nicht umsetzen könne, der nur mit der AfD möglich ist. "Die anderen Parteien zeigen auf die CDU und die AfD feiert", so Lembcke. Die Kosten dafür trage allein die CDU. Ohnehin habe die Brandmauer bereits Löcher.
Es brauche aber eine Gegenstrategie. "Die CDU sollte auf einzelnen Politikfeldern die AfD auffordern: Nennt uns glaubwürdige Ansprechpartner, mit denen wir dann inhaltlich an einem Projekt arbeiten", sagt Lembcke. Selbst in der Thüringer AfD-Fraktion seien nicht alle Abgeordnete erwiesene Extremisten. Aus Lembckes Sicht könnten auf diese Weise AfD-Wähler angesprochen und Spannungen innerhalb der Partei ausgelöst werden.
Staatspolitische Verantwortung
Bleibt die Frage, ob die SPD dabei mitmachen würde. Lembcke sieht das kritisch. "Eine Abstimmung mit der AfD würde am Ende mit Sicherheit zum Bruch der Koalition führen", sagt er. Offiziell zumindest wollen CDU, SPD und BSW alle Thüringer Landtagsfraktionen frühzeitig in Gesetzesvorhaben einbinden - also neben der Linkspartei auch die AfD.
Für Sachsen plädiert Christian Stecker gegen eine Aufnahme der SPD. "Damit würde die CDU sich Handlungsspielraum nehmen", sagt er. Allerdings wird es die Stimmen der Sozialdemokraten wohl sicher brauchen, um Michael Kretschmer wieder ins Amt gewählt zu bekommen.
Stecker sieht die staatspolitische Verantwortung bei jeder einzelnen Partei: Man müsse eigene Projekte mit einer CDU-Minderheitsregierung ausmachen. Gleichzeitig müsse man akzeptieren, wenn man bei anderen Themen nicht zum Zug kommt. Die CDU wiederum müsste es hinnehmen, gelegentlich überstimmt zu werden.
Das sei alles andere als einfach, aber: "Die alten übersichtlichen Lagerkoalitionen lassen sich nicht zurückzaubern", so Stecker.