Boris Palmer Absturz eines Hoffnungsträgers
Der Tübinger Oberbürgermeister Palmer galt bei den Grünen lange als politisches Talent. Doch über die Jahre wurde er mehr und mehr zum Provokateur. Nun hat er den Bogen überspannt. Wie konnte es so weit kommen?
Dass Boris Palmer ausgerechnet bei den Grünen Karriere machen würde, stand in seinen jungen Jahren keinesfalls fest. Als er gerade zwei Jahre im Landtag saß, sagte er dem SWR: "Ich habe lange gebraucht, um in eine Partei einzutreten, weil ich diesen Freiheitsdrang doch von meinem Vater - wenn nicht geerbt, dann angenommen - habe." Der Vater, bekannt unter dem Spitznamen "Remstal-Rebell", war sein Leben lang als Einzelkämpfer politisch aktiv gewesen.
Der Sohn versuchte es mit den Grünen - der Klimaschutz war das verbindende Element - und wurde 2001, kurz nach seinem Lehramtsstudium, in den baden-württembergischen Landtag gewählt. Bei den Wählerinnen und Wählern kam der intelligente Jungpolitiker gut an. 2006 gewann er mit nur 34 Jahren zum ersten Mal die Wahl zum Tübinger Oberbürgermeister. Zwei weitere Wahlsiege 2014 und 2022 sollten folgen.
Landesweit machte Palmer sich im Schlichtungsverfahren rund um das Bahnprojekt "Stuttgart 21" als scharfsinniger Gegner des Vorhabens einen Namen. Das Amt des Ministerpräsidenten schien lange Zeit erreichbar.
Erfolgreiche Politik in Tübingen
"Er macht gute Politik", hieß es häufig aus Tübingen, wenn jemand von auswärts die Frage stellte, warum er denn dort immer wieder gewählt würde. Festzumachen ist das an zahlreichen Unternehmen, die sich in Tübingen angesiedelt haben, und steigenden Gewerbesteuereinnahmen. Aber auch am Klimaschutz: Bis 2030 soll die Stadt klimaneutral werden, das hat der Gemeinderat im November 2020 unter Palmer beschlossen und ein umfangreiches Klimaschutzpaket verabschiedet.
In der Corona-Pandemie ist Palmer ebenfalls neue Wege gegangen. Im Rahmen eines Modellprojekts konnten Einzelhandel und Gastronomie für Negativgetestete wieder öffnen.
Provokationen am Fließband
Doch mit seiner Art eckte Palmer immer wieder an. Schon in seiner ersten Amtszeit als Tübinger OB brachte er den Gemeinderat gegen sich auf, weil er immer wieder Gemeinderatsunterlagen auf Facebook verbreitete und zur Diskussion stellte, noch bevor die Gemeinderäte darüber abgestimmt hatten. Über die Jahre wurden Palmer-Aufreger zum politischen Alltag in Tübingen und Baden-Württemberg.
Ab 2015 arbeitete er sich am Umgang mit Geflüchteten ab. Er, der Kommunalpolitiker, forderte eine Obergrenze für Geflüchtete, man könne deren Unterbringung nicht gewährleisten. Merkels berühmtem Satz "Wir schaffen das" setzte der Tübinger 2016 ein trotziges "Wir schaffen das nicht" entgegen. Zuvor hatte er bereits gefordert, gewaltbereite junge Geflüchtete nach Syrien abzuschieben. Positionen, mit denen er sich vor allem im linken Flügel der Landes-Grünen keine Freunde machte.
In den Medien dagegen schon: Der Grüne mit den anti-grünen Positionen wurde zum gern gesehenen Talkshow-Gast: die programmierte Provokation.
Spiel mit rassistischen Stereotypen
Saß er gerade nicht in einer Talkshow, nutzte Palmer die sozialen Medien - gerne, um mit rassistischen Stereotypen zu zündeln. Wie im April 2018, als er sich über einen Schwarzen Radfahrer äußerte, der ihn, so Palmer, fast umgefahren habe: "Das gehört sich für niemanden und für einen Asylbewerber schon dreimal nicht."
Ob dieser Radfahrer ein Asylbewerber war oder nicht, konnte Palmer aber nicht wissen. Er habe von dessen Hautfarbe auf den Aufenthaltsstatus geschlossen, so die Kritik aus Palmers Partei. Der OB entschuldigte sich im Nachhinein für das "Kommunikationsdesaster".
Um handfestes politisches Handeln ging es im Januar 2019. Da bestätigte der Tübinger Oberbürgermeister dem SWR, die Stadt führe eine Liste mit "auffälligen Asylbewerbern", die durch Gewalt- oder Drogendelikte aufgefallen seien. Palmer wollte diese Menschen wohl in einer separaten Unterkunft unterbringen. Ausländer, so die Argumentation des OB, seien öfter kriminell. Weil die Liste nach Einschätzung des Landesdatenschutzbeauftragten nicht legal war, wurde sie eingestellt.
Kretschmann denkt, Palmer spricht
Mit seiner Idee war Palmer allerdings nicht ganz weit weg von der Gedankenwelt eines Winfried Kretschmann: 2018 wollte der grüne Ministerpräsident zum Beispiel straffällige junge Flüchtlinge alias "Männerhorden" "in die Pampa" schicken. Und nach der "Stuttgarter Krawallnacht" - in der Jugendliche in der Innenstadt randaliert hatten - interessierte sich der Ministerpräsident besonders für die Herkunft der Tatverdächtigen.
Es ist davon auszugehen, dass Palmer häufig sagte, was Kretschmann und andere Realo-Grüne lieber nur dachten. Regelmäßig hielten sie ihm denn auch die Treue, wenn es eng wurde für Palmer.
2020 legte ihm der Landesvorstand erstmals einen Parteiaustritt nahe. Der Anlass: ein Interview im SAT.1-Frühstücksfernsehen. Zum Schutz älterer Menschen vor Corona hatte Palmer dort gesagt: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Palmer trat nicht aus, aber er war angeschlagen.
Eklat um das N-Wort
Im Bundestagswahlkampf 2021 dann ein neuer Eklat: Palmer benutzte auf Facebook das N-Wort - also einen rassistischen Begriff - in Kombination mit einem vulgären Begriff, bezogen auf den Schwarzen ehemaligen Fußballspieler Dennis Aogo. Damit habe er die Unterstützung der Partei verloren, twitterte die damalige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Palmer selbst sagte, er habe das Wort satirisch verwendet. Trotzdem beschloss der Landesparteitag ein Parteiausschlussverfahren.
Doch Palmers Freund Rezzo Schlauch kam zu Hilfe, vertrat ihn als Anwalt vor dem Landesschiedsgericht der Partei. Es kam nicht zum Ausschluss, stattdessen einigte man sich auf einen Vergleich: Palmer musste seine Parteimitgliedschaft bis Ende 2023 ruhen lassen. Bis dahin, hieß es, wolle man sich Gedanken machen, "wie der Antragsgegner zukünftig kontroverse innerparteiliche Meinungen äußern könnte unter Beachtung der Grundsätze und Ordnung der Partei".
Im Klartext: Wie man Palmer dazu bringt, weniger öffentlich zu pöbeln und einfach wieder gute Politik zu machen. Eine Antwort auf diese Frage haben die Grünen offensichtlich nicht gefunden. Nach einem indiskutablen Judenstern-Vergleich rang sich Palmer selbst zum Austritt durch, kam damit wohl dem Rauswurf zuvor. Höhere politische Weihen sind ihm damit endgültig verschlossen. Und ob er nach seiner Auszeit Oberbürgermeister in Tübingen bleiben kann, muss sich zeigen.