Nach der Europawahl Die SPD sucht den "Klare-Kante-Kanzler"
Nach dem desaströsen Europawahlergebnis steigt im Lager der Sozialdemokraten der Druck. Bricht nach einer langen Phase der Geschlossenheit der innerparteiliche Streit wieder aus?
Da sitzt der Kanzler in Apulien unter Olivenbäumen beim G7-Gipfel. Tags zuvor war ihm dort ein Geburtstagsständchen gesungen worden. Der französische Präsident Emmanuel Macron umarmte ihn herzlich, US-Präsident Joe Biden stimmte "Happy Birthday" an. Olaf Scholz, der Gipfelkanzler. Da schien er ganz bei sich auf internationalem Parkett. Weltpolitik statt SPD-Tristesse.
Einen Tag später soll er in der ARD mit Blick auf den Zustand seiner SPD am Rande des Gipfels persönliche Fehler und Versäumnisse beschreiben. Scholz zögert da drei Sekunden. Unverändert treibe ihn um, dass sich in der Ampelkoalition nicht alle am Riemen reißen, sagt der Kanzler: gewunden, in vier Sätzen, mit insgesamt fast 130 Wörtern. Selbstkritik? Fehlanzeige.
Wenn nichts mehr hilft, hilft unterhaken
Über das Reden soll nun geredet werden. Wie sich Kommunikation und Politik der SPD ändern müssten, darüber werde in der Partei gesprochen, so SPD-Chefin Esken heute im Deutschlandfunk: "Damit wir besser an den Ohren der Menschen sind."
Dass es gewaltig rumort in der SPD, dass nach der dritten und vierten Reihe jetzt auch prominentere Sozialdemokraten aus der Deckung kommen - Kanzler Scholz versucht dem Chor der Unzufriedenen einen positiven Grundton zu geben. Er freue sich, dass jetzt alle so offen miteinander reden: "Weil wir uns als SPD unterhaken wollen." Unterhaken. Eins der Lieblingsworte spätestens seit Franz Müntefering die SPD als Parteichef führte. Wenn nichts mehr hilft, hilft unterhaken.
Sichtbarer in der Regierung durchdringen
Vertrauensfrage? Neuwahlen? Scholz wischt solche Worte einfach weg. "Wir haben einen Auftrag zu erfüllen. Und das tun wir", sagt er dem ARD-Hauptstadtstudio. Dass sich jetzt sogar die treuesten Scholz-Erklärer wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gezwungen sehen, öffentlich zu fordern, der Kanzler müsse sichtbarer mit seinen Überzeugungen auch in der Regierung durchdringen, nimmt der 66-jährige Scholz allenfalls zur Kenntnis.
Immerhin hat Scholz offenbar begriffen, dass es nicht mehr reicht, auf die lange Ergebnisliste der Ampelkoalition zu verweisen. "Die Leute müssen das auch mitbekommen und verstehen", analysiert der Kanzler.
Die Sache mit dem Verstehen aber versteht Scholz offenbar anders. Dass viele Genossen der öffentlich spröde Kanzlercharme zunehmend nervt, dass sie einen "Klare-Kante-Kanzler" wollen, ihre SPD viel zu lange als Ringrichter beim grüngelben Ampelboxkampf wahrgenommen wurde - Kanzler Scholz sieht das alles nicht. Gerade erst sagte er im Phoenix-Podcast, kein Kanzler vor ihm habe so viele Bürgergespräche geführt wie er. Nach dem Motto: Die Bürger verstehen mich viel besser als die Medien und auch die Genossen.
Der Frust wächst
Aber der Frust im SPD-Lager wächst. "Natürlich ist da jetzt Druck", sagen sie im Willy-Brandt-Haus. Dort weiß nicht nur SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, dass sie die Europawahlkampagne verbockt haben. "Diejenigen, die jetzt Verantwortung haben, müssen sie jetzt auch wahrnehmen", heißt es aus der Parteizentrale. Parteichef Lars Klingbeil wurde da deutlicher: "Es gibt Dinge im Wahlkampf, die mir nicht gepasst haben."
Und dann war da noch das Wort "Kontaktschande": Kühnert hatte den Begriff mit Blick auf die für seine Partei toxische Nähe zu FDP und Grünen erfunden. Dafür gab es sogar einen öffentlichen Rüffel vom SPD-Chef Klingbeil. Es helfe nichts, jetzt auf andere zu zeigen.
Dass SPD-Generalsekretär Kühnert seit Regierungsbeginn eher wie ein zweiter Regierungssprecher auftritt und den Kanzler von morgens bis abends verteidigt, stört jetzt plötzlich einige Genossen.
Aufkommende Zweifel in der Partei?
Klingbeil, der mit Kühnert zusammen den Podcast "K-Frage" aufnimmt, muss dieser Tage wohl eher daran denken, dass manche Sozialdemokraten an der Basis ihre persönliche Kanzler-Frage eher mit dem SPD-Liebling Boris Pistorius beantworten.
"Alle relevanten Teile in der SPD" sähen in Scholz die "Nummer eins", sagt Niedersachsens SPD-Chef Stephan Weil im Bericht aus Berlin. Unangefochten sei er: "Olaf Scholz hat wirklich das Vertrauen der SPD, und ich sehe auch überhaupt keine Alternative."
Zyniker mögen sagen: Je mehr danach gefragt wird und je mehr betont werden muss, wie unangefochten Scholz ist, umso mehr zeigt das aufkommende Zweifel in der Partei. Und die Fragen mehren sich.
Mitgliederbegehren des linken Flügels
Dass jetzt das Forum demokratische Linke 21 (DL21), der linke Flügel der SPD, ein Mitgliederbegehren startet, hat viel damit zu tun, dass sich gerade der linke Teil der SPD abgehängt fühlt. "Es gibt in der SPD das verbreitete Gefühl, dass wir an Glaubwürdigkeit verloren haben. Wir brauchen wieder klare, sozialdemokratische Antworten für die Bevölkerung", sagt Erik von Malottki, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern und Co-Vorsitzender der DL21, dem ARD-Hauptstadtstudio.
Für den Sozialdemokraten von Malottki und andere der Parteibasis wird der kommende Haushalt auch eine Art SPD-Glaubensbekenntnis. Der linke Flügel möchte sichtbare SPD-Positionen erkennen. Das Mitgliederbegehren: kein unfreundlicher Akt, sondern eher ein Hilferuf der Basis.
"Wir machen dieses Mitgliederbegehren, weil wir Kürzungen im Bereich Bildung und Soziales verhindern wollen. Wir wollen den Mitgliedern der SPD eine Stimme bei dieser Haushaltsaufstellung geben", sagt von Malottki. Sie brauchen jetzt 4.000 Stimmen aus zehn Unterbezirken und drei Bundesländern, um das Mitgliederbegehren auf die Schiene zu setzen. Auch der Kanzler dürfte interessiert verfolgen, wie viele Unterschriften am Ende zusammen.
Im Willy-Brandt-Haus jedenfalls starren jetzt alle auf die Haushaltsberatungen. SPD-Chef Klingbeil nennt den Haushalt öffentlich die "Vertrauensprobe" für die Regierung. Scheitert diese Vertrauensprobe Anfang Juli, dürfte die Vertrauensfrage die nächste Ampel-Haltestelle werden.