Linke-Abgeordnete auf TikTok Politikerin mit Reichweite
Heidi Reichinnek schafft, woran andere scheitern: der AfD auf TikTok Paroli bieten. Für die geschrumpfte Linke im Bundestag könnte die junge Abgeordnete noch wichtig werden.
Wenn in diesen Tagen nach Gründen für die hohen Umfragewerte der AfD gesucht wird, dann fällt oft auch der Name TikTok. Über 20 Millionen Nutzerinnen und Nutzer hat TikTok nach eigenen Angaben in Deutschland. Zwei von fünf jungen Menschen sind laut der aktuellen ARD/ZDF-Onlinestudie auf der Plattform für Kurzvideos angemeldet. Flächendeckend Erfolg hat dort bislang aber nur eine Partei: die AfD.
"TikTok nicht der AfD überlassen"
Die in Teilen rechtsextreme Partei und ihre Bundestagsfraktion haben TikTok als erste flächendeckend bespielt. Andere zogen zögerlich nach. "Wir müssen dort präsent sein, sonst erreichen wir eine wichtige Wählergruppe nicht", sagte Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion, gerade dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Bislang bleiben die Zahlen anderer Fraktionen hinter denen der AfD zurück. Bei Accounts von Politikern sieht es noch schlechter aus: CDU-Chef Friedrich Merz etwa hat keine 20.000 Follower auf TikTok.
Zu den Wenigen, die dagegen halten können, zählt stattdessen eine Abgeordnete aus der zweiten Reihe der Linkspartei: Heidi Reichinnek. Die 35-jährige Kinder- und Jugendpolitikerin sitzt seit 2021 im Bundestag. Auf TikTok hat sie fast achtmal so viele Follower wie Merz und mehr Likes als Alice Weidel und Sahra Wagenknecht.
Reichinneks erfolgreichstes Video zeigt Ausschnitte aus einer Debatte zum Gendern im Bundestag. Der Antrag kam von der AfD. Reichinnek begrüßt das Plenum als "Selbsthilfegruppe 'Wegen der AfD zwanghaft übers Gendern reden müssen'" und wirft der AfD selbst "Genderwahn" vor. Zwischen die Rede sind kurze Memes, bekannte Videoclips aus dem Internet, geschnitten. Alles wirkt unernst, würde Reichinnek am Ende nicht auflisten, wozu die AfD keine Anträge vorläge: zu Frauenhäusern etwa oder zu einem höheren Mindestlohn. Bislang wurde das Video fast vier Millionen mal angeschaut.
Reichinnek, die vor dem Bundestag in der Jugendhilfe gearbeitet hat, sagt: "Kinder und Jugendliche leben auf ihren Mobiltelefonen." Was das bedeutet, habe sie während der Corona-Pandemie gesehen. "Ich wollte TikTok nicht der AfD überlassen."
Junge Menschen erreichen
Konzipiert und geschnitten werden die Videos von ihrem Mitarbeiter Felix Schulz. Beide hätten zu Beginn der Legislatur eine Image-Analyse von Reichinnek gemacht, erzählt Schulz. Über die Jugendhilfe habe die Politikerin einen klaren Bezug zu Kindern und Jugendlichen, außerdem ist sie die jüngste Abgeordnete der Fraktion. Deshalb habe man sich auf TikTok konzentriert.
"Die Erfahrungen dort sind mit denen auf anderen Plattformen nicht zu vergleichen", sagt Schulz jetzt. Kurzvideo-Content sei die Zukunft der Kommunikation.
Reichinnek sieht sich selbst als Erklärerin von Politik. Bei ihr finden sich Videos zu Bundestagsreden und Ausschussarbeit neben Videos über ihre zahlreichen Tattoos und die Frage, wie man den Kinderzuschlag beantragt. Sie wolle, "dass 13-Jährige politischen Content haben, der sich an ihrer Lebensrealität orientiert".
Junge Menschen sollten früh eine eigene Perspektive entwickeln, selbst wenn sie noch nicht wählen könnten. Sie kämpfe auf TikTok für ihre Partei, "aber auch für mehr Interesse und Vertrauen in das demokratische System allgemein", sagt Reichinnek. Dafür verzichtet sie etwa auf Tanzvideos.
Glaubt man den Kommentaren unter den Videos, funktioniert das durchaus. Ein Top-Kommentar lautet aber auch: "Manchmal habe ich das Gefühl, der Bundestag ist eher so Diss-Battle oder Comedy-Show." 18.600 Menschen haben das gelikt.
Emotionale Auseinandersetzung
Schon jetzt haben Plattformen wie YouTube und TikTok die Politik verändert. Ein Vorwurf gegen die dort so erfolgreiche AfD lautet, ihre Abgeordneten würden ihre Reden gar nicht mehr für die Parlamentsdebatten, sondern gleich für Videozusammenschnitte schreiben.
Offenkundig säße die primäre Zielgruppe von AfD-Reden "nicht im Parlament, sondern in den digitalen Wutkammern der Partei", schreibt etwa der Kommunikationsberater und ehemalige Grünen-Wahlkampfmanager, Johannes Hillje, in der Zeitschrift "Blätter". Er nennt die AfD eine "digitale Propaganda-Partei".
Trifft das nicht auch auf Heidi Reichinnek zu? Profitiert sie am Ende vor allem vom Erfolg der AfD auf TikTok? Ihre meistgesehenen Videos haben oft einen AfD-Bezug - etwa zu Beatrix von Storch. Die hatte "Kindermörder" dazwischen gerufen, als Reichinnek im Bundestag zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch sprach.
Damit habe von Storch das Frauenbild der AfD selbst demaskiert, findet Reichinnek. Klar zu sagen, dass so etwas in einem Parlament nichts zu suchen hat, sei eben "genau der Punkt, der uns weiterbringt". Man zeige, was bei der AfD schieflaufe - und verbinde das damit, was die Linke selbst in der Sozial- und Familienpolitik zu bieten habe.
Hätte Reichinnek so im Bundestag reagiert, es wäre ein Skandal gewesen. Auf TikTok aber gibt es allein dafür 280.000 Herzen. Reichinnek betont den Unterschied zur AfD aus ihrer Sicht: Am Ende provoziere sie, "um meine Botschaften durchzubringen, nicht, um Leute aggressiv zu machen". Sie zeige, was bei der AfD schieflaufe - und verbinde das damit, was die Linke selbst zu bieten habe.
Linke soll Kommunikation verbessern
Reichinnek bemüht sich, die eigenen Inhalte und die eigene Partei in den Vordergrund zu stellen. Nach dem Abgang von Sahra Wagenknecht aus der Linkspartei habe sie den linken Account mit der höchsten Reichweite. Das wolle sie nutzen. "Ich will andere aus der Partei gezielt über ihre Themen einbinden."
Eine Europakandidatin und der Fraktionschef in Brandenburg waren in ihren TikToks zu sehen, ein linker Schüler, der sich gegen die AfD an Schulen engagiert, in einem anderen. Die subtile Botschaft: Die Linke sei keine zerstrittene Partei mehr.
Nach Feierabend und an freien Tagen tourt Mitarbeiter Schulz durch die Partei, um die Erfahrungen weiterzugeben. Das Duo sieht sich in einer Vorreiterrolle und formuliert selbstbewusst Ansprüche: "Sowohl im Bundestag als auch der Partei selbst fehlt es an einer konsistenten Öffentlichkeitsarbeit", sagt Reichinnek. Die Linke müsse sich jetzt auf zentrale Themen konzentrieren und eine Mischung zwischen Inhalten und Provokation schaffen.
Gruppe sucht eine neue Spitze
Aufgrund ihrer Stellung bei TikTok sprechen sich manche Linken-Abgeordnete nun für Reichinnek als Vorsitzende der neuen Gruppe aus. Die Gruppe will bei einer Klausur Anfang kommender Woche ihre Spitze wählen.
Ex-Fraktionschef Dietmar Bartsch hat sich zurückgezogen. Mehrere Namen kursieren, auch die der Co-Partei-Vorsitzenden Janine Wissler und der Migrationspolitikerin Clara Bünger, oder die Idee einer Doppelspitze. Reichinnek selbst sagt dazu: "Ich führe diese Personaldiskussion erst mal in der Partei." Man werde sehen, was die Gruppe auf ihrer Klausur entscheidet.
Heute hat Reichinnek der Gruppe eine gemeinsame Kandidatur mit dem Leipziger Abgeordneten Sören Pellmann vorgelegt.